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«Du sahst so verloren aus, und was mir Annik von dir erzählte, hat mir Angst gemacht. Außerdem hat man nicht jeden Tag die Chance, jemanden nach Haus zu bringen, oder?«

«Und wenn ich nicht mitgekommen wäre, wärst du dann allein durch das dunkle Schiff gegeistert?«

Sie stand in der Kajüttür und überlegte. Ich sah, sie stellte sich vor, in diesem Augenblick allein zu sein.

«Wahrscheinlich hätte ich versucht, dich zu vergessen. Und wie ich mich kenne, wär’s mir geglückt.«

An Calais kamen wir so nah vorbei, dass man im Abendlicht die vom Schnee weißen Dächer sah. Die Stadt und ihr Hafen waren hell erleuchtet. Über einer Straße, die zum Wasser hinabführte und dicht befahren war, glitzerten Lichterketten, Sterne, Kometenschweife, Wegweiser für Weihnachtseinkäufer. Das Bullauge war gerade so groß, dass wir Schulter an Schulter hindurchblicken konnten.

Calais und der Ärmelkanal blieben zurück, aber wir sechs auf der Kitty dampften hinaus auf die finstere Nordsee mit Kurs Ostende und belgische Küste. Ich umarmte Lilith, und sie bat mich, sie festzuhalten, solange wir an Belgien vorbeifuhren, dann würde uns ein kleines Königreich für immer verbinden.

«Ich bin nicht so gut in Romantik«, lachte sie und küsste mich mit so warmen Lippen, dass ich erschrak.

Sie schmiegte sich an mich, und ich spürte, sie lebte, ihre Muskeln und Knochen, ihre Brust, ihr Bauch, ich schmeckte Liliths Speichel, roch ihren Atem, die Haut ihrer Halsbeuge, ich sah im Funzellicht der Kajüte den Glanz in ihren Augen und hörte es sie selber sagen:»Ich bin nicht tot, und du auch nicht, oder? Ich finde, du bist so lebendig wie ich.«

«Ja, bin ich«, flüsterte ich.»Und ich bin hier.«

Und Lilith sagte leise:»Du musst mir jetzt von euch erzählen, Markus. Damit sie endlich sterben kann, verstehst du?«

Texel, Vlieland, Terschelling, Ameland, Rif, Schiermonnikoog, Simonszand, Rottumerplaat, Rottumeroog. In den Stunden nach Mitternacht passierten wir die Eilandkette vor der niederländischen Küste. Lilith hatte die Namen der Westfriesischen Inseln gegoogelt und auswendig gelernt. Wie man sie aussprach, wusste sie nicht, und es war ihr auch egal.

Sie lag in meinem Arm, oder ich in ihrem. Wir hatten uns auf die Koje gelegt, zugedeckt mit der grünen Wolldecke. Auf Liliths Bauch lag die Taschenlampe, ich beobachtete ihren Lichtschein, wie er sich bewegte und manchmal zitterte, wenn sie atmete.

«Bournemouth«, sagte ich.

Und sie wiederholte es — »Bournemouth«. Aus ihrem Mund klang der Name harmlos.

«Alles begann in Bournemouth. Am Anfang war Bournemouth. Sie war fünfzehn und ging nach England, um die Sprache zu lernen. Als sie zurückkam, war alles anders. Sie war völlig verändert.«

Lilith fragte, inwiefern verändert, erwachsener?

«Ihre Angst. Ihre Angst, Angst, Angst. Es gab nichts anderes mehr für sie. Ihre manische Angst und ihre Manie, eine Sprache nach der anderen zu lernen, bloß um nicht über sich und uns nachdenken zu müssen. Nichts sonst machte sie noch. Nächtelang saß sie auf dem Bett und lernte Französisch, Russisch, Italienisch, Spanisch, brasilianisches Portugiesisch.«

«Und du?«

Und ich. Lilith stützte sich auf den Ellbogen und sah mich an, ihr Gesicht so nah, als wäre es ein Teil, eine Fortsetzung von meinem oder umgekehrt.

«Und ich — hab sie beobachtet, hab gewartet. Ich half ihr, fragte sie ab, beschwichtigte unsere Eltern. Ich war ihr Bruder, wie immer. «Ich drehte den Kopf weg, der voller Tränen war, die aber keinen Ausgang fanden.

«Guck mich an«, flüsterte Lilith. Ihre Hand an meinem Kinn drehte mein Gesicht, drehte mich zu ihr zurück.»Wenn du mich ansiehst, les ich in deinem Gesicht. Da steht die ganze Geschichte, und du musst nicht alles erzählen.«

Es war eine dreiunddreißig Jahre alte, seit dreiunddreißig Jahren Tag für Tag neu verschüttete Geschichte. Niemand außer uns kannte sie, und seit Iras Tod war ich der Einzige.

Wann hatte es angefangen?

Ich gab keine Antwort, schüttelte den Kopf.»Sagte ich doch — in Bournemouth.«

«Markus, hast du nach Bournemouth oder vor Bournemouth zum ersten Mal mit ihr geschlafen?«

Spielte das eine Rolle? Ich konnte Liliths Gedanken sehen, sie huschten ihr durch den Kopf, flitzten über die Augen, die tatsächlich in meinem Gesicht zu lesen schienen. Geschlafen — so richtig miteinander geschlafen? Das letzte Mal vielleicht acht Monate vor ihrem Tod. Aber es war nicht gegangen, war nur der Abschied ihres Körpers von meinem gewesen. Und das erste Mal? Das Bett war das Bett gewesen, das Zimmer das Zimmer. Der Flur war der Flur, die Treppe die weiße Treppe, und wir waren noch Kinder gewesen.

«Dreizehn, vierzehn waren wir«, sagte ich zu Lilith.»Es war ein, zwei Jahre vor Bournemouth, genau weiß ich es nicht mehr und will’s auch gar nicht wissen.«

Die Tür war die Tür, und sie war zu. Sie war fest geschlossen, so wie das Fensterauge der Garage, verschlossen und mit nichts aufzukriegen, wie das Bullauge in der Story von Ernest Hemingway. Bloß einen Sprung brachte der Wracktaucher dem Glas bei, als er unter Wasser mit dem Schraubenschlüssel dagegenhämmerte. Und hinter dem Bullauge, im Innern des Dampfers, der schon voll Wasser gelaufen war, sah der Taucher eine ertrunkene Frau. Ihr Gesicht war ganz nah, so nah wie Liliths meinem. Sie trieb im Wasser, und ihre Haare fluteten nach allen Seiten.

«Bournemouth«, sagte ich wieder.»Als sie schwanger wurde und aus Israel zurückkam, überlegte sie eine Zeit lang, ihr Kind nicht in Hamburg zur Welt zu bringen, sondern in England.«

«In Bournemouth.«

«Ja. Aber sie ging nicht nach England. Plötzlich hatte sie das Geld für ein Haus und fand eins in einer ruhigen Hamburger Gegend. Dorthin zog sie mit dem Kind. Während Jesses Vater, der Mann aus Tel Aviv, nach Südengland ging.«

«Nach Bournemouth?«

«Ich hielt das dreizehn Jahre lang für einen Zufall. Sie sagte, es sei einer, ein Zufall — die Sprache der Welt! Manchmal dachte ich, sie hat diesen Mati vielleicht schon damals kennengelernt, als Teenager auf der Sprachschule. Achtzehn Jahre lang reiste sie von einem Land ins nächste. In Netanja oder Tel Aviv traf sie ihn vielleicht wieder, wurde schwanger von ihm, sie trennten sich, und er ging nach Bournemouth, weil er die Stadt kannte.«

«Und weil sie die Schwesterstadt von Netanja ist«, sagte Lilith.»Es gibt viele Israelis in Bournemouth. Es gibt eine Synagoge. Danielle kennt den Rabbiner und seine Frau, sie sind ein paarmal mit der Kitty gefahren.«

Ich wusste, dass Netanja in Israel die Schwesterstadt von Bournemouth in Dorset war, und meine Schwester Ira hatte es ebenso gewusst, beide Städte hatte sie gut gekannt.

«Du weißt doch, mein Beruf ist die Sicherheit an Bord«, flüsterte Lilith.»Aber manchmal wäre ich viel lieber für die Unsicherheit und den Zweifel zuständig. «Sie küsste mich auf den Mundwinkel.»Sag mir doch bitte, was dich so quält.«

Ich drehte mich von ihr weg und lauschte auf die Geräusche des alten Fährschiffs, das zum letzten Mal über ein Meer fuhr. Ich hörte, wie das Wasser an der Bordwand entlang heckwärts strömte und wie die Dieselmotoren unten im Rumpf stampften, den ganzen hundertsiebenundvierzig Schritte langen Schrotthaufen hörte ich dröhnen und ächzen. Und ich hörte Lilith. Anfangs war ihre Stimme wie Iras gewesen, genau gleich, doch inzwischen kam es mir so vor, als hätte ich vergessen, wie es war, Ira zuzuhören. Wenn Lilith etwas sagte, hörte ich nur noch sie.

«Du glaubst, dass sie dich belogen hat«, sagte sie,»die ganzen Jahre, ist es das?«

Sie strich mir durchs Haar, streichelte meinen Kopf, küsste mich, küsste mich auf die Schläfe und die Ohrmuschel, so lange, bis ich … irgendwann schlief ich ein.

Wir fuhren an den Ostfriesischen Inseln vorbei durch die Deutsche Bucht — Baltrum sahen wir, Langeoog, Spiekeroog, Wangerooge. Diesiges Morgenlicht stand über der Wesermündung, und so weit man blicken konnte, lag auch die norddeutsche Küste unter einer dichten Schneedecke.