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Ich half, die übrigen Brote auf drei Teller zu verteilen, je einen für die Brücke, den Maschinenraum und uns. Lilith ging und brachte den Männern Kaffee und Frühstück, und sie berichtete, als dann auch wir aßen und Kaffee tranken, dass mittlerweile der deutsche Lotse an Bord war, ein echter Bremerhavener, es gab die Stadt also wirklich!

«Hattest du daran Zweifel?«

«Du etwa nicht?«

Dann half ich ihr, unsere Schlafhöhle leer zu räumen. Wir stopften alles bis auf die grüne Wolldecke in eine Mülltüte. Nur die leere Koje und der leere Tisch blieben in der Kajüte zurück, als wir die Tür schlossen und zum Autodeck gingen. Als hätte ihn jemand vergessen, parkte dort als einziger Wagen ein zerdellter japanischer Kleinbus, auf dessen Heckklappe SUPERMANCHE stand. Lilith öffnete die Schiebetür und legte die Decke auf einen Sitz.

«Fahrt ihr zusammen zurück?«

«Nous cinq, oui«, sagte sie, ohne mich anzusehen.»La Kitty reste ici avec toi. — Komm, gehen wir an Deck, gucken.«

Die Kitty fuhr schon stromaufwärts. Ich staunte, wie breit die Weser war und wie silbern der winterliche Fluss glitzerte. Kein anderes Schiff war zu sehen, kein Tanker, kein Frachter, nicht mal ein Kümo, bloß flache, weiße Ufer und immer wieder versprengte, übers Wasser hingleitende Möwen.

Dicht beieinander standen wir an der Reling. Lilith hatte die Mütze wieder aufgesetzt, sodass ich jedes Mal, sobald sie mich ansah, auf ihrer Stirn den Schiffsnamen las. Sooft sie es bemerkte, lachte sie. Und wenn ich auch nicht wissen konnte, wie traurig sie der doppelte Abschied von der Kitty und mir machte, hatte ich doch zumindest eine Ahnung, wie viel Kraft es sie kostete, trotzdem so gleichmütig, fast heiter zu sein.

Womöglich war das die Brücke — gelassene Heiterkeit, trotziges Lachen angesichts unüberwindbar scheinender Hürden. Ich sah Maybritt Juhl vor mir. Ich dachte an Annik, Annik Sorel und ihren feigen Freund Serge. Und da war noch jemand, ohne den ich verloren, tatsächlich ein Verlorener gewesen wäre.

«In Bournemouth findet sich keine Spur von keinem Mati, in ganz Südengland praktiziert kein israelischer Arzt mit diesem Vornamen«, sagte ich zu Lilith, ohne sie dabei anzusehen.»Vielleicht gibt es Mati überhaupt nicht. Sie kann ihn genauso gut erfunden haben.«

Langsam drehte sie sich zu mir. Die ganze Nacht habe sie darüber nachgedacht. Was, wenn es Mati gar nicht gab? Sie sah mir fest in die Augen.»Was lässt dich das glauben?«

Von Jesses Zahnärztin, meiner Nacht mit ihr, von dem englischen Ärzteregister und allen Nachforschungen der letzten Monate wollte ich lieber nicht erzählen.

Ich sagte Lilith, was mich darauf gebracht hatte:»Es war das Haus. Das Geld dafür kam weder aus England noch Israel oder sonst woher. Es kam von unseren Eltern. Sie hatten es gekauft. Sie verkauften ihr eigenes Haus und wohnten darin zur Miete, damit ihre Tochter und ihr Enkel ein Zuhause hatten.«

«Und warum?«

Ich wusste es nicht und verstand es so wenig wie Lilith. Vielleicht hatte selbst Ira die Antwort nicht gekannt.

«Weshalb sollte sie einen Mann erfinden, wenn nicht um zu verschleiern, wer der wahre Vater ihres Sohnes ist?«, sagte Lilith.

Wer? Ich. Oder doch ein anderer? Vielleicht Kevin. Seit dem Ausflug zur Bunthäuser Spitze hielt ich es für möglich. Ira hatte sich weder unseren Eltern noch Jesse anvertraut. Niemandem hatte sie etwas verraten, keiner ahnte etwas, nicht mal ich, ihr Bruder, ihr liebster Mensch, ihr Liebling.

Was mich so quälte, stand mir ins Gesicht geschrieben, und Lilith konnte es lesen:»Selbst vor dir hat sie es geheim gehalten. Sie musste ihr Kind schützen. Aber auch dich hat sie um jeden Preis schützen wollen. Ich kann sie so gut verstehen. Markus, du musst dir nicht die Schuld geben, du musst sie verstehen!«

Die Kitty machte an einem Kai im Neuen Hafen fest. Lediglich zwei Arbeiter waren nötig, um sie zu vertäuen, ein dritter saß dick eingemummelt in einer gläsernen Kabine, die überm Wasser zu schweben schien, und ließ die Rampe herab, sobald das Bugtor offen stand.

Wir gingen zu Fuß von Bord, und Lilith kämpfte mit den Tränen. Ich legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie über die Rampe hinauf zu der vom Schnee freigeräumten Pier.

«Was ist das?«, fragte sie und zeigte auf lauter grüne steinchenartige Körner, die überall auf dem vereisten Beton lagen. Granulat, Rollsplitt — beide Wörter kannte sie nicht.

«Und was ist das?«Ich zeigte nicht auf das Winzigste, sondern auf das Größte, das ich vor mir sah. Es wirkte wie ein riesiger gelber Karton, nur dass er Türen hatte, höher als das Schiff.

«Trockendock«, sagte Lilith und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.»Da wird sie reingefahren, aufgebockt, auseinandergeschweißt. In zwei Wochen ist nichts mehr von ihr übrig.«

Der Kleinbus tauchte aus dem Schiffsbauch auf und kam an Land gefahren. Kurz stoppte er an der Glaskabine, in der der Arbeiter zu einem Backsteingebäude hinter uns zeigte. Der weiße Nissan fuhr weiter und kam auf uns zu.

«Jetzt muss ich adieu sagen. Wir fahren zum Hafenamt, die Kitty übergeben«, sagte Lilith. Sie nahm meinen Anorakkragen in die Hände und zog immer wieder daran.»Dann werd ich heulen. Und froh sein, dass es vorbei ist. «Der Van hielt.»Komm, ich stell dich kurz vor. Die vier haben uns hergebracht.«

Ich schüttelte Claude, Sébastian, dem Navigator und zuletzt dem Kapitän die Hand. Vier ältere, bärtige, hundemüde Männer beäugten mich aus einem Kleinbus, in dem ihr gefrierender Atemhauch stand.

Einer der beiden Maschinisten fotografierte mit einer kleinen Digitalkamera. Aus der Schiebetür heraus knipste er die Fähre, die gelbe Trockendockhalle, die Hafenkräne und die Weser mit ihren verlassenen weißen Ufern.

«Regarde!«Grinsend machte er ein Foto von Lilith und mir.

«Ich hab noch was für dich«, sagte ich zum Abschied zu ihr.»Ganz mit leeren Händen bin ich doch nicht gekommen. «Ich zog die drei Blätter aus der Innentasche, faltete sie auseinander und gab sie ihr. Die Kitty war darauf zu sehen, die Kitty an der Pier in Cherbourg, der kleine Traktor vor der Kitty, Danielle vor der Kitty, der offene Bug, das Heck, die Zwillingsschornsteine, eine Bullaugenreihe der Kitty.

«Mon dieu! Merci!«Sie strahlte.»Küsst du mich vor lauter fremden Männern? Küss mich bitte fest, fest, fest, fest.«

Dann stieg sie ein. Aber bevor ich die Tür zuschob und sie weg war, zog sie mir noch ihre Mütze über den Kopf.

19

Über die Lombardsbrücke brandete in Richtung Esplanade und Planten un Blomen der Nachmittagsverkehr des warmen Frühsommersonnabends, und durch die Glasfront des Cafés sah man auf der Außenalster Optimisten und Jollen; da waren hunderte Segelboote. Ein Alsterdampfer, offenbar ein sehr alter, vielleicht ein Museumsschiff, fuhr zwischen den kreuz und quer dahingleitenden Segeln hindurch und drückte schließlich seine Rauchsäule unter einen Bogen der Kennedybrücke. Der weiße Qualm puffte herauf, hüllte die Brückenmitte kurz ein und verschwand dann im Blau des Lichts und der Luft, während der Dampfer schon auf der Binnenalster war und auf den Jungfernstieg zuhielt.

Das Café in der Galerie der Gegenwart leerte sich. Das Büfett war vertilgt, die Gespräche waren geführt, die Ausstellung der prämierten D-Day-Dokumentation in St: art war bewundert und beklatscht worden. In Hamburg regnete es dreihundert Tage im Jahr. Die Leute wollten an die Elbe, es war Cabriowetter.

Mein Vater schob sich ein letztes Schnittchen in den Mund. Geduldig lauschte er mit einem Ohr Kevin Brennicke, der ihm am Büfett jeden Fluchtweg versperrte, um eine Suada wer weiß wovon auf meinen alten Herrn niederregnen zu lassen. Kevin lachte, knuffte ihn auf den Oberarm, und mein Vater blickte diesen Erfolgsmenschen von unten herauf an und zog bis an die Obergrenze seines Amusements einen Mundwinkel in die Höhe.