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«Ich erzähl grad von Peru!«, rief Kevin so laut, dass die beiden schwarz gekleideten Kellnerinnen, die die Tische abräumten, die Augen verdrehten, ehe sie zu feixen begannen.»Solltest du dir durch den Kopf gehen lassen. Man sieht so was nicht alle Tage, alter Muffel!«

Ich hob eine Hand, schickte ein Lächeln hinüber und nippte an der lauwarmen Plörre in meiner Kaffeetasse. Der Dampfer hatte den Anleger am Alsterpavillon fast erreicht. Von der vier Stockwerke hohen Fontäne auf der Binnenalster in der Mitte zerschnitten, drosselte er das Tempo. Die stotternde Qualmsäule über dem Schornstein löste sich in Luft auf. Gegen das blendende Licht blickte ich den Ballindamm hinunter, von wo sie kommen mussten, doch da waren nur lauter Fremde.

Nana und die Kinder holten den fehlenden Brennicke ab. Gefolgt von meinem Vater, eilte Kevin zu mir an mein Fenster, umarmte mich und sagte, er würde nicht lockerlassen. Die kleine Naomi kam angeflogen. Sie ähnelte erschreckend ihrer Mutter, auch wenn Nana anderthalb Meter zu groß war, um noch der Länge nach Kevins Bein zu umklammern. Mit dem Mädchen am Hosenbein hinkte Kevin hinaus.

«Hilfe, ich hab ein Holzbein! Hilfe, wie ist das passiert?«, rief er unter dem angeödeten Stöhnen seines Sohnes. Noah war jetzt elf und wirkte wie die Miniaturausgabe seines Vaters, ein kleiner, griesgrämiger, alles besser wissender Brennicke. Noch mit sechzehn war Kevin genauso gewesen.

«Meine Herren!«, seufzte mein Vater, als die vier draußen waren.»So langsam begreif ich, wieso du für den nicht mehr arbeiten wolltest. Was für ein Mundwerk. Das reinste MG.«

«Komm. Lass uns vorm Eingang warten, bestimmt sind sie gleich da«, sagte ich.»Draußen ist so schönes Licht.«

Auf dem Weg zum Ausgang kamen wir noch einmal durch die D-Day-Ausstellung. Ich merkte meinem Vater an, dass er nach Haus wollte, und weil auch ich ausgelaugt war vom Smalltalk mit Saskia, die von ihrer jungen Mitbewohnerin schwärmte, und mit Jesses Ex-Pflegemutter Karen Lewandowski, eilten wir durch die Räume und Stellwandkorridore, wo immer noch Leute vor den Bildern und Schaukästen standen, ohne dass wir die Fotos und anderen Exponate länger betrachteten.

«Die Nächste ruft dich«, sagte mein Vater, und da hörte auch ich eine Frauenstimme laut meinen Namen sagen, so lange, bis ich stehen blieb und mich umdrehte.

Juhls lösten sich aus einer kleinen Besuchergruppe vor einer Landkarte vom Bessin und kamen auf uns zu. Ich begrüßte sie, stellte meinem Vater Ove vor, den er nur vom Hörensagen kannte, und spürte dabei Maybritts Blicke. Ove Juhl erkundigte sich nach den Wacholderdrosseln im Garten meiner Eltern, woraufhin mein Vater sichtlich verblüfft überlegte, woher dieser Fremde mit dem Waldschratbart von dem Pärchen wusste. Dann aber fasste er Vertrauen zu Ove und begann zu erzählen.

Seit meiner Rückkehr hatte ich Maybritt mehrfach gesehen. Wir waren essen gewesen, nur sie und ich, und hatten die Veröffentlichung ihrer Emily Dickinson-Übersetzungen in einem kleinen dänischen Verlag gefeiert. Aber ich hatte Juhls auch ein paarmal in Teufelsbrück besucht. Mit Margo, Niels und Carlo waren wir im Jenischpark spazieren gegangen, dort hatte ich ihr von meinen Frankreichplänen erzählt. Hin und wieder rief mich Maybritt an, dann tauschten wir uns aus, aber nie lang, weil es Cat nicht einsah, dass ich mit ihrer Mutter redete anstatt mit ihr.

Britta sagte, sie vermisse Zeichnungen von mir. Immer stelle sie sich vor, wie meine Brücken wohl ausgesehen hätten. Eigentlich wollte sie gar nicht hier reingehen, sondern nur drüben im Kunstforum in die Impressionisten-Ausstellung. So viele Monets, welche Pracht! Sie war ganz selig und glühte immer noch. Ich sah es an ihren Sommersprossen. Tausend Tüpfel schienen auf ihrem Gesicht zu tanzen.

Jetzt spürte ich Oves Blicke. Mit meinem Vater stand er vor einem grobkörnigen, schaufenstergroßen Schwarzweißfoto, das britische Fallschirmjäger vor einem Horsa-Segler zeigte. Auch dessen Crew hatte der Fotograf abgelichtet, lauter junge Männer an einem Frühsommertag 1944. Jeder einzelne konnte McCoy Lee sein. Anscheinend hatte mein Vater seine Müdigkeit niedergerungen. Gestenreich erläuterte er die Funktionsweise des Holzgleiters, und Ove nickte mir quer durch den Gang vielsagend zu.

Ich fragte Maybritt, ob sie schon Pläne für die nächste Vogelreise hatten, und da lachte sie so schön, dass es wehtat.

«Du meinst, ob wir wieder ins L’Angleterre gehen? Vielleicht zur Silbernen Hochzeit. Vor ein paar Tagen rief Flaubert zurück. Das Hotel ist verkauft, alles wird neu gemacht. Und stell dir vor, Didier hat sich einen Trawler gekauft! Du guckst mich an und hast diesen Annik-Blick. Wir haben nichts von ihr gehört. «Sie winkte.»Da ist sie. Spatz, guck, hier ist er doch!«

Catinka zog mich am Sakkoärmel hinüber zu den Brückenzeichnungen. Lange standen wir schweigend vor den vier großkopierten Bildern und sahen uns an, wie Xu die Pegasusbrücke, die alte Steinbrücke am Gui, die Ruine des Eisenbahnviadukts von Souleuvre und das Panorama mit den Brücken über die Douve gezeichnet hatte. Cat erkannte den Gui wieder, sie erinnerte sich an die grünen Messerfische in dem Flüsschen und an das fremde Mädchen mit dem Fahrrad. Sie mochte die Zeichnungen.

«Die sehen so aus, als könnte man in sie reingehen.«

Das stimmte. Wieder war ich verblüfft von Xu Quinfans an Mangas und Graphic Novels geschultem Stil. Blanke Stellen wirkten wie Lichtreflexe. Jede Winzigkeit ließ das Bild lebendiger erscheinen.

«Wie geht’s deiner Weinbergschnecke?«, fragte ich.

«Gut. L’Orgueilleuse war im Winter in meinem Zimmer, aber jetzt ist sie im Garten. Auf zwei Bildern steht der Name von Jesse und dir, das find ich echt merkwürdig!«

Sie zeigte es mir, und ich tat, als wäre mir noch gar nicht aufgefallen, dass auf Xus Pegasusbrücke eine Zeichnung von der Pegasusbrücke, auf seiner Brücke am Gui eine gezeichnete Brücke am Gui und hier wie dort der Name Lee zu sehen war.

«Schon seltsam, findest du das auch, kleine Madame?«Wie aus einem der Bilder herausgetreten, stand hinter uns mein Vater.

Cat zog mich am Ärmel und flüsterte:»Wer ist der?«

Zwischen der Galerie der Gegenwart und der Kunsthalle befand sich das Kunstforum mit seiner Impressionisten-Ausstellung. Von dort habe meine Mutter angerufen, berichtete mein Vater, während wir durch den unterirdischen Flur eilten.

«Verlaufen!«, lachte er kurzatmig.»Sobald sie das Haus verlässt, verliert deine Mutter die Orientierung. Und plötzlich steht sie vor einem Cézanne.«

Wir mussten die Eintrittskarten vorzeigen. Mein Vater klappte seine Brieftasche auf, und ich sah, darin steckte ein Foto von Lilith und mir. Es war das Bild, das der Maschinist von der Kitty in Bremerhaven gemacht hatte. Wir standen dicht beieinander auf dem Kai, Lilith mit ihrer Mütze, ich fast mit Vollbart, im Hintergrund überall Schnee und das Fährschiff, das es nicht mehr gab. Zusammen mit einem Brief, den ich seit einem halben Jahr nicht lesen wollte, hatte Lilith das Foto meinen Eltern geschickt.

«Du rechts, ich links«, sagte mein alter Herr.

Mal gemeinsam, mal getrennt schritten wir Ausschau haltend durch die Räume. Ich versuchte, die Gemälde nicht zu beachten, heftete die Blicke stattdessen auf die Gesichter der Leute, die sich aus einer Traube vor einem Bild lösten und weitergingen zum nächsten. Sie waren shoppen, Jesse wollte seine Geburtstagskasse plündern; wenn er etwas gefunden hat, dachte ich, wird er eine Plastiktüte voller Klamotten dabeihaben und draußen warten. Keine Plastiktüte kam in die Nähe eines Cézanne.