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Sie waren nirgends, und von den Gemälden war genauso wenig zu sehen. Dicht gedrängt standen Leute vor einem Obstgarten im Herbst oder einer Elster im Schnee auf einem Gatter.

«Diese Sache mit Peru, von der dein Freund Kevin immer wieder anfängt, diese Nazca-Linien, Markus«, sagte mein Vater,»willst du dir das nicht noch mal durch den Kopf gehen lassen?«

Er stand mit dem Rücken zu einer Landschaft von Monet, über der ein so blauer Himmel leuchtete, dass es mich von den Füßen hob, sobald das Bild für eine Sekunde zu sehen war. Was ich wollte, wusste ich nicht. Ich wäre gern ein Vogel gewesen, eine Seemöwe, konnte aber keine sein. Auch ein halbes Jahr nach meiner Rückkehr wusste ich nur, was ich nicht wollte. Ich wollte nicht nach Peru, um die Nazca-Linien zu zeichnen, wollte überhaupt nichts zeichnen, wenn es sich nicht einfach ergab. Ich wollte Französisch lernen.

«Endlich, da drüben sind sie«, sagte mein Vater.»Du kannst von Glück reden, dass ich noch so gute Augen habe.«

Umgeben von hin und her laufenden, hier und dort stehen bleibenden und dann weiterschlendernden Leuten saß meine Mutter neben Jesse auf einer Lederbank in der Mitte des Raums und rührte sich nicht. Ein Bild, dachte ich, ein Trugbild völliger Ruhe.

«Zwei Stunden lang sind wir durch die Läden gerannt, und wofür? Der Junge kann sich nicht entscheiden. Er ist wie du«, sagte sie zu mir.»Und wie du auch!«

Mein Vater nahm ihre Hand und zog sie hoch.

Auch Jesse stand auf.»Ich hab mich ja entschieden, ich will bloß noch abwarten! Ich meine, Vorfreude und so.«

«Na dann warte ab. Können wir?«

Fest blickte sie den Jungen an, und ich beobachtete ihre Mutteraugen und sah die Ruhe darin und dass sie davon genauso erfüllt war wie ich. Sie wusste, wie sie wollte ich von Glück nicht nur reden können, und so nickte sie und legte den Kopf schräg, damit ich wusste, wohin.

«Wir gehen schon vor. Treffen wir uns am Eingang?«

Ich nickte. Sie hakte sich bei meinem Vater ein, und er winkte.

Jesse und ich gingen in den Raum, in dem die Sisleys hingen. Ich zeigte ihm mein Lieblingsbild aus dem L’Angleterre, Die Überschwemmung der Seine bei Port-Marly, und er erkannte es wieder, lächelte und gab sich Mühe, nicht gelangweilt zu wirken.

«Da seid ihr ja!«, sagte Lilith und stellte sich zu uns.»Jesse hat mir seine Lieblingsläden gezeigt. Lauter schöne Sachen. Wir hatten nur leider nicht viel Zeit.«

«Egal. Ich kann warten«, sagte Jesse gleichmütig.»Lilith und ich wollen nächste Woche noch mal allein los. Wenn du ein vierseitiges Antragsformular ausfüllst, kannst du natürlich mit, Marky Mark.«

Er sah Lilith an.

Lilith sah mich an.

«Tja. Ich werde dir bei den vier Seiten helfen. «Als hätte sie von draußen das Licht mit hereingebracht, leuchtete ihr Gesicht, und in diesem plötzlichen Zimmersommer küsste sie mich.

Zusammen betrachteten wir das Haus des Weinhändlers. Wir sahen die Türschwellen im Wasser liegen und den Fluss durch eine kleine Allee strömen. Unter den Bäumen hindurch fuhr ein Boot, in dem ein einzelner Mann stand. Und in einem Kahn unmittelbar an der Hauswand standen zwei andere und unterhielten sich. Worüber? Es regnete nicht mehr. Wolken fluteten über den Himmel und spiegelten sich in der Seine. Überall Wasser. Was lag darunter? Weil so vieles versunken war, schien alles andere ans Licht gebracht und voller Wunder. Alles so, als würde es nie mehr Nacht.

AUTORENPORTRÄT

© Philippe Matsas

Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt in Hamburg. Neben Übersetzungen von u.a. Sherwood Anderson, Robert Creeley, E.E. Cummings, Emily Dickinson, John Keats und William Butler Yeats veröffentlichte er bislang vier Romane und fünf Gedichtbände sowie Aufsätze und Reisejournale. Für sein Werk wurde Mirko Bonné vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Ernst Willner-Preis (2002), dem Prix Relay du Roman d’Evasion (2008) und dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2010).

http://mirko-bonne.de/

Seine Werke bei Schöffling & Co: Ein langsamer Sturz (2002), Der eiskalte Himmel (2006), Die Republik der Silberfische (2008), Wie wir verschwinden (2009), Ausflug mit dem Zerberus (2010), Sherwood Anderson, Winesburg, Ohio. Übersetzt und mit einem Essay von Mirko Bonné (2012), Traklpark (2012), Nie mehr Nacht (2013).

ÜBER DAS BUCH

Markus Lee reist in den Herbstferien in die Normandie, um für ein Hamburger Kunstmagazin Brücken zu zeichnen, die bei der Landung der Alliierten im Sommer 1944 eine entscheidende Rolle spielten. Lee nimmt seinen fünfzehnjährigen Neffen Jesse mit, dessen bester Freund mit seiner Familie in Nordfrankreich ein verlassenes Strandhotel hütet. Überschattet wird die Reise von der Trauer um Jesses Mutter Ira, deren Suizid der Bruder und der Sohn jeder für sich verwinden müssen. In der verwunschenen Atmosphäre des Hotels L’Angleterre entwickelt sich der geplante einwöchige Aufenthalt zu einer monatelangen Auszeit, die nicht nur für Markus Lee einen Wendepunkt im Leben markiert.

Nie mehr Nacht erzählt schonungslos und ergreifend von der Befreiung Frankreichs, bei der zahllose junge Männer umkamen, die kaum älter als Jesse waren. Dem Zeichner aber ist es zunehmend unmöglich, die Verheerungen des Krieges künstlerisch darzustellen. Doch beinahe noch schwerer fällt es ihm, den Tod der geliebten Schwester zu vergessen. Denn während ein dramatisches Kapitel europäischer Geschichte auf unheimliche Weise in ihm auflebt, stellt sich Markus Lee einem Trauma der eigenen Jugend und Abgründen seiner Familie.