Kevin kam zum Thema zurück: Er habe haufenweise Fotos von allen fünf oder sechs Brücken, um die in der Gegend um Caen und Bayeux besonders erbittert gekämpft worden sei, Fotos aus allen Perspektiven und in jedem Licht. Keins, aber auch gar keins mache deutlich, worauf es ihm ankomme.
Ein paar Tage später trafen wir uns. Auf einer Michelinkarte, die er mitgebracht hatte, zeigte er mir, wo die Flüsse verliefen, Aure, Vire, Orne, ein Flüsschen namens Drôme, und wo die mächtigen Überreste des Eisenbahnviadukts von Souleuvre standen. Eiffel hatte es entworfen. Fassungslos vor Begeisterung über den Schatz, den er entdeckt hatte, schüttelte Kevin den Kopf.
«Diese Brücken, mein Lieber, waren im Sommer ’44 sowas wie das Tafelsilber der Gegend, in der die Alliierten landeten«, sagte er.»Ich weiß nicht genau, wie viele es waren, aber es müssen Zigtausende gewesen sein, die ihr Leben gelassen haben, um eine dieser uralten Stahlkonstruktionen entweder halten, sprengen oder erstürmen zu können, Amerikaner, Deutsche, Kanadier, Briten, Franzosen wild durcheinander, dazu auf alliierter Seite Soldaten und Söldner aus der halben Welt, und auf Seiten der Nazis jede Menge Geknechtete, vor allem Polen und Russen. Markus, alter Krieger, du siehst skeptisch aus. Die Idee gefällt dir nicht.«
Ich war nicht skeptisch. Ich fand die Sache sogar tatsächlich wichtig, packend, meinetwegen sogar poetisch. Die Aufnahmen von den Flüssen und Brücken zeigten eine berückend schöne Landschaft, die zugleich rätselhaft war, weil sich ein Krieg durch sie hindurchgewälzt hatte, ohne dass von seiner Bestialität noch etwas zu erkennen gewesen wäre. Eine kleine Steinbrücke führte über das Flüsschen Gui, viel mehr war nicht zu sehen. Ich sagte Kevin, was ich dachte: Sein Enthusiasmus war absolut berechtigt. Nur sah ich nicht, was ich dem Projekt hinzufügen konnte.
Es ging ihm nicht um Brücken als pittoreske Bestandteile einer malerischen Landschaft. Es ging, verflucht, nicht um besseren Fototourismus, die magischen Momente einer Hasselblad-Safari. Vielmehr wollte er: Antlitze. Porträts dieser Brücken. Wesenhaft dargestellt. Ungeschönt! Emporgeholt aus der Tiefe der Zeit. Eine Brückenbefragung, so wie die Autoren der Reportage alte Bäuerinnen aus dem Bessin befragt hatten.
«Jede der Brücken hat ihre Geschichte, und in gewisser Weise haben sie ein Gedächtnis, das brauche ich dir nicht zu erläutern. Deine New York-Serie, deine Arbeiten über St. Petersburg machen das so phänomenal. Jedes Bauwerk ist ein Palimpsest, jedes ein Troja, egal, ob es sich dabei um einen Flughafen handelt oder um ein zweitausend Jahre altes Aquädukt — das hast du selber gesagt. Und ich sage: Es fragt sich nur, ob ich die einzelnen Schichten des Palimpsests erkenne und wie ich sie zum Sprechen bringe. Diese Brücken, Markus, sind harte Brocken. Darum gibt’s sie ja noch. Die bringt kein Fotograf zum Reden, keiner, den ich kenne. Nur einer wie du — der tagelang um seine Beute rumschleicht, bevor er eine Linie zieht. Aber diese Linie ist es dann. Sie ist die Brücke. Und: Du arbeitest mit Texteinsprengseln, was nur wenige können. «Er lachte und gab mir über den Tisch hinweg einen Klaps auf den Arm.»Du wirst dein blaues Wunder erleben, wenn du siehst, was über die Jahre alles auf die alte Pegasusbrücke gekliert wurde. Also?«
«Mag ja alles richtig sein.«
Ich fühlte mich geschmeichelt und wusste selbst nicht, wieso ich solchen Widerstand leistete. Doch, ich wusste es. Ich fühlte mich überrollt. Es war das alte Problem mit Kevin Brennicke, dem Überflieger. Die Begeisterung, die er an den Tag legte, ließ keinen Raum für die anderer.
Ich suchte nach Ausflüchten. Zu viel von dem, was es vielleicht zu entdecken gab, hatte er schon gesehen. Von der Ironbridge bei Birmingham war er mit Nana und den Kindern nach Poole gefahren. Wie seinerzeit die Alliierten waren sie mit dem Schiff über den Ärmelkanal gekommen und hatten sich in der Normandie zwei oder drei Brücken in Autobahnnähe angesehen, auch die Pegasusbrücke über den Caen-Kanal.
Wie um sie probehalber in Besitz zu nehmen, blätterte ich die Bilder noch mal durch. Am liebsten hätte ich sie eingesteckt, wäre ohne weiter darüber nachzudenken nach Haus gegangen und hätte sie im Studio an die Wand gepinnt, um sie mir in Ruhe eine halbe Stunde lang ansehen zu können. Das Entscheidende war Ruhe. Muße und Saumseligkeit. Zu schauen und zu schreiten, hineinzuschreiten in das, was man vor sich sah. Wenn ich allein mit mir war, fühlte ich mich den Dingen nah und konnte mich für sie begeistern. Dann konnte ich zeichnen, endlich, Dinge, die wie ich der Angst widerstanden.
Alles, was ich zu Papier brachte, machte mich undurchdringlicher. Beim kleinsten Anzeichen, dass etwas von mir erwartet wurde, blockte ich ab und verdarb alles. Manchmal dachte ich, dass ich im Grunde mich selbst aus den Augen verlieren wollte, ich hatte nur noch nicht herausgefunden, wie das zu bewerkstelligen war.
«Ich bin nicht begeistert, aber das kommt bestimmt noch«, sagte ich, um Kevin nichts vormachen zu müssen.»Wenn es dir möglich ist, gib mir zwei Tage Bedenkzeit, bevor ihr euch einen anderen sucht.«
Aber er wollte sich keinen Ersatz suchen. Kevin war sich sicher, dass ich es machen würde. In Rufweite zu meinem Studio saßen wir am Hafen bei einem Portugiesen, aßen eine Kleinigkeit und tranken Viño verde, bis der Wirt mit dem eintätowierten Mädchennamen auf dem Unterarm die Stühle auf die Tische stellte, damit seine Frau und Tochter darunter wischen konnten. Und als er» Obrigado!«rief und wir hinauswankten, um an der Kehrwiederspitze noch etwas Nachtluft zu schnappen, hatte ich die Aufnahmen von den Flüssen und Brücken und die Straßenkarte von der Basse-Normandie eingesteckt.
6
Kevins Michelinkarte lag zur Hälfte aufgefaltet auf dem Tisch, als Jesse von den Toiletten zurückkam und sich zu mir auf die rote Kunstlederbank setzte. Er fragte, ob ich schon bestellt hätte, und ich schüttelte den Kopf.
Es gab keine Tischbedienung, es gab ein Büfett.
«Komm, wir suchen uns was aus«, sagte ich, wollte ihm aber vorher noch die Route zeigen und bis wohin ich es heute gern schaffen würde. Er war jetzt beinahe ganz wach und wirkte ausreichend aufnahmebereit.
Ich zeigte ihm, wo wir waren — kurz vor Osnabrück — , dann Aachen — wo wir über die Grenze fahren würden — , darauf Mons — wo ich in Belgien übernachten wollte — und schließlich, nach einer langen Strecke, die mein Zeigefinger durch Nordfrankreich fuhr und die Jesse Zentimeter für Zentimeter mitverfolgte …
«… Caen.«
«Das ist total weit«, sagte er angewidert, ließ sich gegen die Lehne sinken und klappte den Kopf in den Nacken.
«Na ja, darum ja die Übernachtung«, meinte ich.»Wenn wir morgen nach dem Frühstück gleich loskommen, sind wir am frühen Nachmittag in der Normandie. Ich gucke mir die erste Brücke an, die südlichste, und dann …«
«Ist nicht dein Ernst, oder?«Er wischte sich die Haare aus der Stirn und starrte mich an. Dann starrte er die Straßenkarte an.»Wo ist diese Brücke denn, wenn es die südlichste ist?«
Ich zeigte es ihm. Das alte Viadukt von Souleuvre. Die Ruine lag rund fünfzig Kilometer südwestlich von Caen, die A84 führte genau darauf zu. Die nächste größere Stadt war Saint-Lô.
«Das ist ein riesiger Umweg! Das Hotel ist am Meer. Und dieses Viadukt ist hier unten, im Nirgendsland! Ich meine, bitte! Du könntest mich zum Hotel bringen. Oder mich in Caen rauslassen, damit mich Niels und sein Vater abholen können. Ich will nicht zu irgendeinem verfallenen Viadukt fahren.«