«Ich wünschte, ich hätte kein Herz. Oder könnte mein Herz ausschalten, wie das Karen Lewandowski anscheinend kann. Wenn ein Pflegekind geht, kommt halt das nächste.«
Mein Vater erinnerte sie unnötigerweise daran, dass Jesse ihr Enkel war. Er nahm das Messer. Er nahm sich eine Orange.
«Wenn es nach dir gegangen wäre, würde der Junge heute in einer Jugendwohnung leben und könnte sich von seinem Sozialarbeiter mit Latzhose die Vorteile einer Methadonbehandlung erläutern lassen. Ich rede von Verbitterung und Enttäuschung«, sagte sie zu meinem Vater,»und du schälst dir dabei eine Orange und guckst zur Zimmerdecke, wie um irgendeine Statik zu berechnen.«
«Na ja«, sagte er.»Ich hab das schon so oft gehört, Rebecca.«
Als Jesse schließlich nach Hause kam, scheuchte sie ihn zunächst ins Bad, ehe sie ihn an den Tisch zitierte.
«Dann los. Frag ihn«, sagte sie in einem so gehässigen Ton, dass Jesse mit zuckenden Wimpern vor uns saß und sie nicht aus den Augen ließ.
Während ihm sein Großvater die Sachlage schilderte, balancierte Jesse sein Handy auf zwei Fingerkuppen über das Tischtuch.
«Keine Ahnung«, lautete seine Antwort.»Aber Marky Mark«, sagte er dann,»der ist ja wohl eher im Alter von Niels’ Eltern.«
Und ob er es wollte oder nicht, damit hatte er seine Entscheidung getroffen.
Missmutig dachte ich zurück an diesen Sommerabend im Haus meiner Schwester. Jetzt war es das Zuhause meiner Eltern und ihres Enkels. Jetzt war es sechs Wochen später, und ich fuhr mit dem Jungen an Osnabrück, Münster und Hamm vorbei, Städten, in denen ich nie gewesen, durch die ich vielleicht einmal durchgefahren und von denen mir nur der Name im Gedächtnis geblieben war. Unser Krach auf der Raststättenbrücke schien Jesse ebenso nachzugehen wie mir der Streit meiner Eltern. Und so, wie ich in ihrer Stube nichts gesagt hatte, sagte er nichts zu mir.
«Die haben so wunderschöne Augen, so dunkel glänzende, aufmerksame«, sagte meine Mutter am Telefon zu Herrn Juhl, als sie Vertrauen zu dem fremden Mann gefasst hatte und ihm von dem in ihrem Garten nistenden Wacholderdrosselpaar erzählte.
Eine lange Zeit hörte sie dem Ornithologen zu.
«Ja, wenn Sie meinen. Frühmorgens, bevor es hell wird, so früh also? Wir werden sehen«, sagte sie.»Das ist meinem Mann und mir jedenfalls noch überhaupt nicht in den Sinn gekommen.«
Zum ersten Mal verstand ich, dass weder der mit dem Jungen getroffene Deal noch der mit meinen Eltern geschlossene Kompromiss etwas mit mir zu tun hatte, und schon wähnte ich mich dicht davor, eine Einzelheit zu entdecken, die ich anscheinend vergessen hatte und die alles Übrige erklärte. Am Steuer sitzend, sah ich mich mit Ira in demselben Zimmer, in dem ich mit meinen Eltern zusammengesessen hatte. Und mit einem Mal fiel mir die Einzelheit ein. Sie war peinlich, und ich schämte mich, dass sie mir offenbar doch nachging.
Weder meine Eltern noch der Junge hatten ein Wort über meinen Auftrag verloren. Ich sollte in der Normandie Brücken zeichnen, für die sich vor siebzig Jahren Tausende hatten erschießen und in die Luft jagen lassen, hätte aber ebenso in einem Preisausschreiben ein Wellness-Wochenende in einem Hotel Spa bei Bayeux gewinnen können. Das hätte sie aufhorchen lassen.
«Unser Kritzler«, hieß es früher oft.»Unser Kritzler mit dem abgebrochenen Kritzlerstudium«, hieß es später.»Unser Kritzler hat nicht studiert, hat aber jetzt ein Studio.«
Irgendwann war ihr Spott einer milden Gleichgültigkeit gewichen. Sie kamen zu einer Ausstellung. Sie kniffen die Augen zusammen vor meinen Bildern voller seltsamer Linien. Sie aßen Schnittchen. Sie blätterten den neuen Katalog durch. Sie saßen auf dem Sofa unter der New York-Serie, die Ira dorthin gehängt hatte. Sie konnten sich nicht vorstellen, wie mir das Zeichnen zum Hals heraushing.
«Woran arbeitest du grad? Erzähl. Jetzt erzähl doch schon!«, hatte sie zu mir gesagt und mich zum Sofa gezogen, wo ich endlich damit rausrücken sollte. Sie schlang sich eine Wolldecke um die Beine, weil sie immer, immer kalte Füße hatte. Und manchmal schloss Ira die Augen, um sich ein Gebäude, das ich ihr beschrieb, oder eine Zeichnung, die ich davon gemacht hatte, besser vorstellen zu können.
«Aber um wirklich nichts mehr sehen zu können, müsste ich hundert Lider haben«, sagte sie einmal,»überall, am ganzen Körper Augen, wie dieses schöne Ungeheuer bei den alten Griechen. Alle müsste ich gleichzeitig zumachen. Und du müsstest mich so zeichnen, mit hundert geschlossenen Augen.«
7
Am frühen Nachmittag fuhren wir bei Aachen über die Grenze. Seit dem Mittagessen auf der Brücke hatte Jesse kein Wort mit mir und ich keines mit ihm geredet. Zweieinhalb Stunden lang hörte er über seine Ohrstöpsel Musik, spielte dabei ein Spiel auf seinem Handydisplay oder blickte einfach aus dem Seitenfenster ins Nichts. Bloß einmal war Bewegung in ihn gekommen. Minutenlang kramte er in seinem Rucksack, beförderte aber nichts daraus hervor und gab die Suche schließlich unter einem entnervten Seufzer, den ich für viel zu dramatisch und deshalb für gespielt hielt, auf. Ich hätte ihn fragen können, wonach er suchte oder ob er etwas vergessen hatte. Weil ich mir aber sicher war, dass er genau das erreichen wollte, ließ ich es. Und so schwiegen wir. Und hinter Lärmschutzwänden, Industriebrachen und Schrotthalden entlang der Trasse schwiegen das Ruhrgebiet und das ganze Rheinland.
Kaum aber waren wir über die Grenze, hielt Jesse es nicht länger aus. Er wurde zappelig. Die Felder, die Schilder, die Häuser und Wälder, die Autos und Busse und Lastwagen, die wir überholten und uns entgegenkamen, alles sah zwar ähnlich aus, war mit einem Mal aber ganz anders. Die Autobahn glich einer sehr breiten und geraden Chaussee. Sie war keine Funktionspiste, kein glattes, graues Band mehr, sondern einfach die Straße, auf der man am schnellsten vorankam, eine Überlandschnellstraße. Ihr Teerbelag war weiß gesprenkelt und rau. Man spürte ein leichtes Vibrieren, wenn man darüber hinfuhr, hörte die Reifen sirren und blieb sich so des eigenen Tempos bewusst.
Ich war überzeugt, dass er nur darauf gewartet hatte, in Belgien zu sein. Denn ehe man nicht in Belgien war, hatte es wenig Sinn, auf Belgien loszugehen. Erst in Belgien, wo einem alles Belgische in die Augen sprang, konnte man sich über Belgien auslassen, und nichts anderes schien er vorzuhaben. Er wusste ja nicht, dass ich den Plan, in Mons zu übernachten, schon vor Stunden aufgegeben hatte.
Sein erster Satz war etwas zittrig, nach einem so langen, angespannten Schweigen kein Wunder. Doch was er sagte, war kühn, ausgefeilt, eine Meisterleistung an makelloser Häme und brachialer Poesie.
«Weißt du, wieso es in Belgien keine Berge gibt?«, fragte er und gab sich die Antwort zur Sicherheit gleich selbst.»Na ist doch klar: weil die Leute sie aufgemampft haben. Und wieso haben die sie aufgemampft?«
Ich sah ihn an — sah in seinen grünen Augen, dass es ihm ernst war, ernst wie nur irgendwas an diesem verlorenen Tag.
«Ich weiß nicht.«
«Na weil es nichts anderes gab, was sie auffuttern konnten. Und jetzt die entscheidende Frage! Warum gab es nichts anderes?«
«Weil sie alles aufgegessen haben?«
«Falsch. Hab ich erst auch gedacht. In Wahrheit haben sie alles andere in ein riesiges graues Loch geworfen.«
Nach dem Namen des Lochs brauchte ich ihn nicht zu fragen. Es hieß Belgien. Auf der schnurgeraden und sachten Hügelwellen folgenden Europastraße 42, irgendwo zwischen Lüttich und Namur, entschied ich mich, Jesse stattdessen zu erzählen, was ich an Belgien mochte. Es war nicht viel, wie ich mir eingestehen musste. In Gedanken überflog ich, was ich mit dem kleinen Nachbarland verband. Zuerst fiel mir mein Vater ein. Wenn er sagte, es gebe» Schuh der Brüsseler «zu essen, dann wussten wir, meine Mutter hatte Rosenkohl, Chou de Bruxelles, gekocht.