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Richard setzte sich auf. Auf der anderen Seite des Daches stand etwas, das wie ein Zelt aussah. Ein altes braunes Zelt, oft geflickt, mit weißer Vogelscheiße besprenkelt.

»Halten Sie den Mund!« sagte der Marquis de Carabas. »Kein Wort mehr.« Dann wandte er sich Old Bailey zu. »Leuten, die ihre Nase in Dinge stecken, die sie nichts angehen – « er schnippte unter der Nase des alten Mannes laut mit den Fingern, woraufhin dieser zusammenzuckte, » – kann es passieren, daß sie ihre Nase verlieren. Also. Sie schulden mir seit zwanzig Jahren einen Gefallen, Old Bailey. Einen großen Gefallen. Und jetzt löse ich ihn ein.«

Der alte Mann blinzelte. »Ich war ein Dummkopf«, sagte er leise.

»Es geht doch nichts über einen alten Dummkopf«, stimmte der Marquis zu. Er griff mit der Hand in eine Innentasche seines Mantels und zog eine Silberdose hervor, größer als eine Schupftabakdose, kleiner als eine Zigarrenkiste und um einiges aufwendiger verziert als beide. »Wissen Sie, was das ist?«

»Ich wünschte, ich wüßte es nicht.«

»Sie werden es an einem sicheren Ort für mich aufbewahren. «

»Ich will es nicht haben.«

»Sie haben keine andere Wahl«, sagte der Marquis. Dann gab er Richard mit seinem schwarzen Stiefel einen kleinen Stoß. »Nun denn«, sagte er. »Wir sollten uns besser wieder auf den Weg machen, was?«

Er schritt über das Dach davon, und Richard folgte ihm, äußerst darauf bedacht, daß er dem Rand des Gebäudes nicht zu nahe kam. Der Marquis öffnete eine Tür, und sie gingen eine schlechtbeleuchtete Wendeltreppe hinunter.

»Wer war dieser Mann?«

Ihre Schritte hallten in dem schwachen Licht auf den Stufen wider.

»Sie haben überhaupt nicht zugehört, was ich Ihnen gesagt habe, oder? Sie sind jetzt schon in Schwierigkeiten. Alles, was Sie tun, alles, was Sie sagen, alles, was Sie hören, macht es nur noch schlimmer. Beten Sie lieber, daß Sie nicht schon zu tief drinstecken.«

Richard legte den Kopf zur Seite. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich weiß, das ist eine persönliche Frage. Aber sind Sie vielleicht geisteskrank?«

»Möglich, aber sehr unwahrscheinlich. Wieso?«

»Na ja«, sagte Richard. »Einer von uns muß es sein.«

Es war jetzt völlig dunkel, und Richard geriet ein wenig ins Straucheln, als er die letzte Stufe erreicht hatte und nach der nächsten suchte, die nicht da war.

»Achtung, Ihr Kopf«, sagte der Marquis, und er öffnete eine Tür, während Richard sich den Kopf an etwas stieß, hinaustrat und seine Augen gegen das Licht abschirmte.

Richard rieb sich die Stirn. Dann rieb er sich die Augen. Die Tür, durch die sie gerade gekommen waren, war die Tür zum Besenschrank in seinem Treppenhaus.

Der Marquis musterte das HABEN-SIE-DIESES-MÄDCHEN-GESEHEN? -Plakat, das neben Richards Wohnungstür klebte.

»Nicht ihre beste Seite«, sagte er.

Dann schloß Richard seine Wohnungstür auf, und er war zu Hause. Es war, wie er erleichtert durch die Fenster sah, wieder Nacht.

»Richard!« sagte Door. »Du hast es geschafft!«

Sie hatte sich gewaschen, während er weg war, und ihre Kleiderschichten sahen aus, als hätte sie zumindest versucht, den gröbsten Dreck und das Blut daraus zu entfernen. Ihr Gesicht und ihre Hände waren jetzt völlig sauber. Richard fragte sich, wie alt sie war: Fünfzehn? Sechzehn? Älter? Er konnte es immer noch nicht sagen.

Sie hatte die Lederjacke angezogen, die sie getragen hatte, als er sie fand: ein riesiges braunes Ding, eine Art alte Fliegerjacke, die sie irgendwie kleiner aussehen ließ, als sie war, und sogar verletzlicher.

»Äh, ja«, sagte Richard. Der Marquis de Carabas ging vor dem Mädchen in die Knie, neigte den Kopf und sagte: »Mylady.«

Ihr schien das unangenehm zu sein.

»Ach, stehen Sie schon auf, de Carabas. Ich freue mich, daß Sie gekommen sind.«

Er erhob sich in einer einzigen fließenden Bewegung. »Ich habe gehört«, sagte er, »daß die Worte Gefallen, sehr und groß genannt wurden, und zwar in einem Atemzug.«

»Später.« Sie ging hinüber zu Richard und nahm seine Hände in die ihren. »Richard. Danke. Ich weiß alles, was du getan hast, wirklich zu schätzen. Ich habe die Laken auf dem Bett gewechselt. Und ich wünschte, ich könnte mich irgendwie bei dir revanchieren.«

»Gehst du?«

Sie nickte. »Ich bin jetzt in Sicherheit. Mehr oder weniger. Hoffe ich. Eine Zeitlang.«

»Wo gehst du jetzt hin?« Sie lächelte sanft und schüttelte den Kopf. »Mh-mh. Ich verschwinde aus deinem Leben. Und du warst wunderbar.«

Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf die Wange.

»Wo kann ich dich erreichen, falls ich – ?«

»Gar nicht. Niemals. Und …«, und dann zögerte sie. »Hör zu, es tut mir leid, ja?«

Richard inspizierte etwas verlegen seine Füße. »Es gibt nichts, was dir leid tun müßte«, sagte er und fügte nicht ganz überzeugt hinzu: »Es hat Spaß gemacht.«

Dann blickte er auf.

Doch es war niemand mehr da.

Kapitel Drei

Am Sonntag morgen nahm Richard das wie ein Batmobil geformte Telefon, das ihm seine Tante Maude vor einigen Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, aus der Schublade unten im Kleiderschrank und stöpselte den Stecker in die Wand.

Er versuchte Jessica anzurufen, jedoch ohne Erfolg. Ihr Anrufbeantworter war ausgeschaltet, ebenso ihr Handy. Er nahm an, sie sei zu ihren Eltern aufs Land gefahren.

Richards Eltern waren beide tot. Sein Vater starb, als Richard noch klein war, plötzlich und unerwartet an einem Herzinfarkt. Seine Mutter ereilte danach ein sehr langsamer Tod, und als Richard von zu Hause weggegangen war, schwand ihre Lebenskraft einfach dahin: Sechs Monate nach seinem Umzug nach London hatte er den Schlafwagenzug zurück nach Schottland genommen und die letzten beiden Tage an ihrem Bett im Krankenhaus verbracht. Mal hatte sie ihn erkannt, dann wieder mit dem Namen seines Vater angesprochen.

Richard saß auf seiner Couch und brütete vor sich hin. Die Ereignisse der beiden letzten Tage erschienen ihm immer unwirklicher, immer unwahrscheinlicher. Real war die Nachricht, die Jessica auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Er spielte sie an jenem Sonntag wieder und wieder ab, jedesmal in der Hoffnung, daß Jessica diesmal nachgiebiger klänge, daß er Wärme in ihrer Stimme feststellen könne. Aber nein.

Er dachte daran, nach draußen zu gehen und eine Sonntagszeitung zu kaufen, doch er entschied sich dagegen. Arnold Stockton, Jessicas Chef, die Karikatur eines Selfmademans einschließlich des vielfachen Doppelkinns, besaß die Sonntagszeitungen, die nicht Rupert Murdoch gehörten. Seine eigenen Zeitungen schrieben über ihn. Wie auch die übrigen.

Richard nahm lieber ein ausgedehntes, heißes Bad, aß ein paar Sandwiches und trank einige Tassen Tee. Er schaute ein wenig Fernsehen und bastelte im Geiste Gespräche mit Jessica zusammen.

Am Ende dieser imaginären Unterredungen liebten sie sich jedesmal wütend, tränenreich und leidenschaftlich; und dann war alles wieder gut.

Am Montag morgen klingelte Richards Wecker nicht. Um zehn vor neun stürzte er, den Aktenkoffer in der Hand, auf die Straße und glotzte, um ein Taxi betend, wie ein Irrer hin und her.

Dann stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus; denn ein großes schwarzes Auto steuerte mit gelb leuchtendem ›TAXI‹-Schild in seine Richtung. Er winkte ihm zu.

»Taxi!«

Das Taxi schenkte ihm keinerlei Beachtung, glitt sanft an ihm vorbei, bog um eine Ecke und war weg.

Noch ein Taxi. Noch ein gelbes ›Frei‹-Licht. Diesmal stellte sich Richard mitten auf die Straße, um es anzuhalten.

Es umkurvte ihn und fuhr weiter.

Richard begann halblaut zu fluchen.