Dann rannte er zur nächsten U-Bahn-Haltestelle.
Er zog eine Handvoll Münzen aus der Hosentasche, drückte am Fahrkartenautomaten den Knopf für eine einfache Fahrt nach Charing Cross und schob sein Kleingeld in den Schlitz. Jede Münze, die er hineinsteckte, fiel sofort durch die Eingeweide des Automaten hindurch und landete klappernd in der Auffangschale darunter. Kein Tikket erschien.
Er versuchte es an einem anderen Fahrkartenautomaten. Und an noch einem.
Der Fahrkartenverkäufer telefonierte gerade, als Richard zu seinem Büro ging, um sich zu beschweren und sich sein Ticket von Hand zu kaufen; und obwohl – oder vielleicht weil – Richard mehrfach »Ey!« brüllte und verzweifelt mit einer Münze an die Plexiglasscheibe klopfte, ließ der Mann sich nicht stören.
»Scheiß drauf«, verkündete Richard, und er schwang sich über die Absperrung.
Niemand hielt ihn auf.
Niemanden schien es zu kümmern.
Er rannte atemlos und schwitzend die Rolltreppe hinunter und erreichte gerade, als der Zug einlief, den vollen Bahnsteig.
Als Kind hatte Richard Alpträume gehabt, in denen er einfach nicht da war. Wieviel Lärm er auch machte, was er auch anstellte, niemand bemerkte ihn.
So fühlte er sich jetzt, als all die anderen sich vordrängelten; er wurde geschubst und hin- und hergestoßen von Leuten, die einstiegen, und Leuten, die ausstiegen.
Er hielt dagegen, drängelte und schubste zurück, bis er fast drinnen war – einen Arm hatte er schon im Zug –, als die Türen sich zischend zu schließen begannen. Er zog die Hand zurück, doch sein Mantelärmel blieb stecken.
Richard hämmerte an die Tür und schrie, in der Hoffnung, der Fahrer würde die Tür zumindest so weit öffnen, daß er seinen Ärmel freibekam. Doch statt dessen setzte sich der Zug in Bewegung, und Richard sah sich gezwungen, schneller und schneller den Bahnsteig entlangzustolpern.
Er ließ seinen Aktenkoffer auf den Bahnsteig fallen und zerrte verzweifelt mit der freien Hand am Ärmel.
Der Ärmel riß, und er fiel vornüber, schlug sich die Hand am Bahnsteig auf und zerriß sich die Hose am Knie.
Schwankend stand er wieder auf, ging dann den Bahnsteig hinunter und holte seinen Aktenkoffer.
Er schaute seinen zerrissenen Ärmel an, seine aufgeschlagene Hand und seine zerfetzte Hose.
Dann stieg er erschöpft die Treppen hinauf und verließ die U-Bahn-Haltestelle. Niemand wollte auf dem Weg nach draußen seine Fahrkarte sehen.
»Tut mir leid, daß ich zu spät komme«, sagte Richard zu niemandem im besonderen.
Die Uhr an der Bürowand zeigte 10 Uhr 30.
Er ließ seinen Aktenkoffer auf seinen Stuhl fallen und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht.
»Ihr werdet nicht glauben, was mir auf dem Weg hierher alles passiert ist«, fuhr er fort. »Es war ein Alptraum.«
Er sah hinunter auf seinen Schreibtisch. Irgend etwas fehlte. Oder genauer gesagt: Alles fehlte.
»Wo sind meine Sachen?« fragte er in den Raum hinein, ein bißchen lauter. »Wo sind meine Telefone? Wo sind meine Trolle?«
Er schaute in die Schreibtischschubladen. Auch sie waren leer: Nicht mal ein Mars-Einwickelpapier oder eine verbogene Büroklammer bezeugten, daß Richard jemals dort gewesen war.
Sylvia kam auf ihn zu, in ein Gespräch mit zwei ziemlich stämmigen Herrn vertieft. Richard ging ihr entgegen.
»Sylvia? Was geht hier vor?«
»Wie bitte?« fragte Sylvia höflich. Sie zeigte den beiden stämmigen Herren den Schreibtisch, den diese, jeder an einem Ende, hochhoben und aus dem Büro zu tragen begannen.
»Mein Schreibtisch. Wo bringen sie ihn hin?«
Sylvia starrte ihn leicht irritiert an. »Wie war doch gleich Ihr Name …?«
Das geht zu weit, dachte Richard. »Richard«, sagte er sarkastisch. »Richard Mayhew.«
»Hallo«, sagte Sylvia. Dann perlte ihre Aufmerksamkeit an Richard ab wie Wasser an einer eingefetteten Ente, und sie sagte: »Nein! Nicht dahin!« zu den Umzugsleuten, die Richards Schreibtisch davontrugen, und eilte ihnen nach.
Richard sah zu, wie sie verschwand. Dann ging er durchs Büro, bis er zu Garrys Schreibtisch kam.
»Garry. Was geht hier vor? Soll das ein Witz sein?«
Garry sah sich um, als hätte er etwas gehört. Dann schüttelte er den Kopf, nahm den Telefonhörer ab und begann zu wählen.
Richard knallte seine Hand aufs Telefon, so daß Garry nicht weiterwählen konnte. »Hör mal, das ist nicht lustig, Garry. Ich weiß nicht, was ihr hier alle für ein Spielchen treibt!« Garry sah zu ihm auf. Richard fuhr fort: »Wenn man mich gefeuert hat, dann sag es mir einfach, aber daß ihr alle so tut, als wär’ ich gar nicht da …«
Und da lächelte Garry und sagte: »Hallo. Ja. Ich bin Garry Perunu. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich glaube nicht«, sagte Richard kalt, und dann ging er hinaus und ließ seinen Aktenkoffer zurück.
Richards Büro befand sich im dritten Stock eines großen, alten, ziemlich zugigen Gebäudes in einer Seitenstraße des Strand.
Jessica arbeitete etwa auf halber Höhe eines großen, gläsernen, verspiegelten Baus in der City of London, fünfzehn Minuten zu Fuß die Straße hoch.
Richard machte sich auf den Weg.
Er war in zehn Minuten beim Stockton-Gebäude, ging einfach an den uniformierten Sicherheitsleuten vorbei die im Erdgeschoß Dienst schoben, betrat den Aufzug und fuhr hoch.
Das Innere des Aufzugs war verspiegelt, und Richard betrachtete sich beim Hochfahren. Seine Krawatte war halb gelöst und hing schief, sein Mantel war zerfetzt, seine Hose zerrissen, sein Haar verschwitzt und ungekämmt … Gott, er sah schrecklich aus.
Ein flötender Ton erklang, und die Aufzugtür öffnete sich.
Die Etage des Stockton-Gebäudes, in der Jessica arbeitete, wirkte auf eine unterdekorierte Art und Weise ziemlich nobel.
Neben dem Aufzug saß eine Empfangsdame, ein erhabenes und elegantes Wesen, das aussah, als würde sein Nettogehalt Richards um Längen schlagen. Sie las Cosmopolitan. Als Richard auf sie zuging, blickte sie nicht auf.
»Ich möchte zu Jessica Bartram«, sagte Richard. »Es ist wichtig. Ich muß sie sprechen.«
Die Empfangsdame ignorierte ihn.
Richard ging den Korridor bis zu Jessicas Büro hinunter. Er öffnete die Tür und trat ein. Sie stand vor drei großen Plakaten, die alle für ›Engel über England – Eine Wanderausstellung‹ warben, jedes mit einer anderen Darstellung eines Engels. Sie drehte sich um, als er hereinkam, und sie lächelte ihn warm an.
»Jessica. Gott sei Dank! Hör zu, ich glaube, ich werde verrückt oder so was. Es fing damit an, daß ich heute morgen kein Taxi bekommen konnte, und dann das Büro und die U-Bahn und – « Er zeigte ihr seinen zerfetzten Ärmel. »Es ist, als sei ich eine Art Unperson geworden.«
Sie lächelte ihn immer noch aufmunternd an.
»Paß auf«, sagte Richard. »Das mit vorgestern abend tut mir leid. Na ja, nicht, was ich getan habe, aber daß ich dich so verärgert habe, und … also, es tut mir leid, aber es ist alles so verrückt, und ich weiß ehrlich nicht mehr, was ich tun soll.«
Und Jessica nickte und fuhr fort zu lächeln, und sie sagte: »Sie werden mich für furchtbar unhöflich halten, aber ich habe ein ganz schlechtes Namensgedächtnis. Geben Sie mir nur einen Moment, es fällt mir bestimmt gleich ein.«
Und da wußte Richard, daß es Wirklichkeit war. Daß all die verrückten Dinge, die ihm heute widerfuhren, wirklich passierten.
»Schon gut«, sagte er. »Vergiß es.«
Und er ging fort, aus der Tür hinaus und den Korridor entlang. Er war fast beim Aufzug, als sie seinen Namen rief.
»Richard!«
Er drehte sich um. Es war doch ein Scherz gewesen. Irgendeine fiese kleine Rache. Etwas, das er erklären konnte. »Richard … Maybury?« Sie schien stolz darauf zu sein, daß sie sich so weit erinnerte.