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»Das tat weh«, sagte der Marquis. Er rieb sich heftig die Stirn und ließ den Kopf kreisen, als hätte er plötzlich einen steifen Hals bekommen.

»Erinnerungen«, erklärte sie. »Sie sitzen in den Wänden. «

Er zog eine Augenbraue hoch. »Sie hätten mich warnen können.«

»Ah«, sagte sie. »Stimmt.«

Sie standen in einem riesigen weißen Saal. Alle Wände hingen voller Bilder. Jedes Bild zeigte einen anderen Raum.

»Interessantes Dekor«, bemerkte der Marquis anerkennend.

»Dies ist die Eingangshalle. Von hier aus können wir in jeden Raum des Hauses gehen. Sie sind alle untereinander verbunden.«

»Wo befinden sich die anderen Räume?«

Sie schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht. Wahrscheinlich kilometerweit weg. Sie sind über die gesamte Unterseite verstreut.«

Der Marquis hatte bereits mit ungeduldigen Schritten den gesamten Raum durchmessen. »Ganz beachtlich. Ein assoziatives Haus, dessen Räume sich alle an unterschiedlichen Orten befinden. Wie einfallsreich. Ihr Großvater war ein Visionär, Door.«

»Ich habe ihn nicht mehr kennengelernt.« Sie schluckte und fuhr dann fort, an sich selbst ebenso wie an ihn gewandt. »Wir hätten hier in Sicherheit sein müssen. Nichts hätte uns passieren dürfen. Nur meine Familie konnte sich in diesem Haus bewegen.«

»Hoffen wir, daß uns das Tagebuch Ihres Vaters ein paar Hinweise gibt«, sagte er. »Wo fangen wir an zu suchen? «

Sie zuckte mit den Schultern.

»Sind Sie sicher, daß er ein Tagebuch geführt hat?«

Sie nickte. »Er pflegte immer in sein Arbeitszimmer zu gehen und die Verbindungen zu unterbrechen, bis er mit dem Diktieren fertig war.«

»Dann beginnen wir im Arbeitszimmer.«

»Aber dort habe ich schon gesucht. Wirklich. Dort habe ich schon gesucht. Als ich die Leiche weggeräumt habe …« Und sie begann zu weinen, in leisen, wütenden Schluchzern, die klangen, als würden sie ihr gewaltsam entrissen.

»Na, na«, sagte der Marquis de Carabas verlegen und tätschelte ihr die Schulter. Und dann fügte er lieber noch ein »Na« hinzu.

Er war kein guter Tröster.

Doors seltsam gefärbte Augen standen voller Tränen. »Nur … nur eine Sekunde, bitte. Es geht gleich wieder.«

Er nickte und ging ans andere Ende des Raumes. Als er sich umschaute, stand sie immer noch da, allein, ihr Umriß hob sich gegen die weiße Eingangshalle voller Raumbilder ab, und sie hatte die Arme um sich geschlungen und bebte und weinte wie ein kleines Mädchen.

Richard war immer noch ungehalten über den Verlust seiner Tasche.

Lord Rattensprecher war ungerührt. Er stellte trocken fest, die Ratte – Master Longtail – habe nichts davon gesagt, daß Richard seine Sachen zurückerhalten solle. Nur daß er zum Markt zu bringen sei.

Dann sagte der Mann Anaesthesia, sie solle den Oberweltler zum Markt bringen, und, jawohl, das sei ein Befehl. Und sie solle mit dem Gejammer aufhören und einen Zahn zulegen! Zu Richard sagte er, wenn er, Lord Rattensprecher, ihn, Richard, jemals wiedersehen sollte, dann sähe es für ihn, Richard, gar nicht gut aus.

Er wiederholte, Richard wisse gar nicht, was für ein Glück er habe, und ohne Richards Bitte um Rückgabe seiner Sachen – oder zumindest seiner Brieftasche – zu beachten, führte er die beiden zu einer Tür und schloß hinter ihnen ab.

Richard und Anaesthesia gingen Seite an Seite in die Finsternis hinein.

Sie hielt eine improvisierte Lampe aus einer Kerze, einer Dose, etwas Draht und einer alten gläsernen Lucozade-Flasche in der Hand. Richard war überrascht, wie schnell sich seine Augen an die fast vollständige Dunkelheit gewöhnten. Sie gingen offenbar durch unterirdische Gewölbe. Manchmal war ihm, als bewegte sich in irgendeiner entfernten Ecke etwas, doch ob es nun Menschen waren oder Ratten oder etwas völlig anderes, es war jedesmal verschwunden, wenn sie die Stelle erreicht hatten.

Wenn er versuchte, Anaesthesia darauf anzusprechen, sagte sie nur: »Psst!«

Er spürte einen kalten Luftzug im Gesicht. Das Rattenmädchen hockte sich ohne Vorwarnung hin, stellte seine Lampe ab und zog und zerrte angestrengt an einem Metallgitter in der Wand. Es ging so plötzlich auf, daß sie rücklings auf dem Boden landete.

Sie bedeutete Richard, hindurchzugehen.

Er kauerte sich hin und schob sich durch das Loch in der Wand. Nach etwa dreißig Zentimetern hörte der Fußboden auf.

»Entschuldige«, flüsterte Richard. »Hier ist ein Loch.«

»Das ist nicht tief«, erwiderte sie. »Geh weiter.«

Sie schloß das Gitter hinter sich. Sie war Richard jetzt so nah, daß es ihm unangenehm wurde. Nervös schob er sich weiter ins Dunkel. Dann hielt er an.

»Hier«, sagte sie. Sie drückte ihm den Griff ihrer kleinen Lampe in die Hand und kletterte hinunter in die Finsternis. »Na also«, erklärte sie. »War doch gar nicht so schlimm, oder?« Ihr Gesicht befand sich keine zwei Meter unter Richards baumelnden Füßen. »Hier. Gib mir die Lampe.«

Er reichte sie ihr hinunter. Sie mußte hochspringen, um sie ihm abzunehmen.

»Jetzt«, flüsterte sie. »Los.«

Er kletterte über den Rand, hing einen Moment in der Luft und ließ dann los. Auf Händen und Füßen landete er in weichem, nassem Schlamm. Er wischte sich die Hände an seinem Pullover ab.

Ein paar Meter weiter öffnete Anaesthesia eine weitere Tür. Sie gingen hindurch, und sie zog sie hinter ihnen zu.

»Jetzt können wir uns unterhalten«, sagte sie. »Nicht laut. Aber wir können. Wenn du willst.«

»Oh. Danke«, sagte Richard. Ihm fiel nichts ein. »Also. Ähm. Du bist eine Ratte, was?« fragte er.

Sie kicherte. »Schön wär’s. Nee, nee. Ich bin ’ne Rattensprecherin. Wir reden mit den Ratten.«

»Was, ihr unterhaltet euch einfach so mit denen?«

»Nicht nur. Wir machen Sachen für sie. Also«, und es klang, als glaubte sie, das sei etwas, worauf Richard nie von selbst gekommen wäre, »es gibt Dinge, die Ratten nicht tun können, weißt du. Ich meine, sie haben schließlich keine Finger und Daumen und so. Moment – «

Sie drückte ihn plötzlich gegen die Wand und hielt ihm mit ihrer schmutzigen Hand den Mund zu. Dann blies sie die Kerze aus.

Nichts geschah.

Plötzlich hörte er in der Ferne Stimmen.

Sie warteten.

Menschen gingen, sich leise unterhaltend, an ihnen vorbei. Als alle Geräusche verklungen waren, nahm Anaesthesia ihre Hand von Richards Mund, zündete die Kerze wieder an, und sie gingen weiter.

»Was waren das für Leute?« fragte Richard.

Sie zuckte mit den Schultern. »Spielt keine Rolle«, sagte sie.

»Und wieso glaubst du dann, daß sie nicht erfreut gewesen wären, uns zu sehen?«

Sie sah ihn ziemlich traurig an, wie eine Mutter, die versucht, einem Kind zu erklären, daß, jawohl, auch diese Flamme heiß sei. Ja, alle Flammen sind heiß. Bitte glaub mir.

»Komm«, sagte sie. »Ich kenn’ eine Abkürzung. Wir können einen Abstecher nach Ober-London machen.«

Sie stiegen ein paar steinerne Stufen empor, und das Mädchen stieß eine Tür auf. Sie gingen hindurch, und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß.

Richard blickte sich verwirrt um.

Sie standen am Embankment, am Themse-Ufer. Es war immer noch Nacht – oder vielleicht war es auch schon wieder Nacht. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie unter der Erde durch die Finsternis gegangen waren.

Der Mond war nicht zu sehen, doch der Himmel hing voller glasklar glitzernder Herbststerne. Außerdem brannten Straßenlaternen und Lichter auf Gebäuden und auf Brücken, die aussahen wie irdische Sterne und sich schimmernd im Wasser der Themse spiegelten.

Wie im Märchenland, dachte Richard.