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Interessant.

Es war eine kleine Statue eines Keilers oder eines kauernden Bären oder vielleicht eines Stiers. Es war schwer zu sagen. Sie hatte die Ausmaße einer großen Schachfigur und war grob aus schwarzem Obsidian gemeißelt. Sie erinnerte ihn an etwas, doch er wußte nicht, an was.

Er nahm sie hoch, drehte sie um. Schlang seine Finger darum.

Door ließ ihre Hand sinken. Sie sah verblüfft und verwirrt aus.

»Was ist los?« fragte er.

»Es ist hier«, sagte sie nur. Sie begann, durch das Arbeitszimmer zu gehen, und wandte dabei ihren Kopf erst zur einen und dann zur anderen Seite.

Der Marquis steckte die Figur in eine seiner Innentaschen. Door stand vor einem hohen Schrank. »Da«, sagte sie. Sie streckte eine Hand aus: Es klickte, und in der Seitenwand des Schranks öffnete sich ein kleines Fach. Door griff in die Dunkelheit und holte etwas heraus, das etwa die Größe und Form eines Kricketballs hatte. Sie reichte es dem Marquis.

Es war eine Kugel aus altem Messing und poliertem Holz, mit Einlegearbeiten aus glänzendem Kupfer und gläsernen Linsen.

Er nahm sie ihr aus der Hand. »Das ist es?«

Sie nickte.

»Gut gemacht.«

Sie sah bekümmert aus. »Ich weiß gar nicht, wie ich das übersehen konnte.«

»Sie waren außer sich«, sagte der Marquis. »Ich war mir sicher, daß es hier sein würde. Und ich liege nur sehr selten falsch. Nun … «, er hielt die kleine Holzkugel hoch. Das Licht fing sich im Glas und spiegelte sich im Kupfer und Messing. Es verdroß ihn, aber er fragte trotzdem: »Wie funktioniert das?«

Anaesthesia hatte Richard in einen kleinen Park auf der anderen Seite der Brücke gebracht und dann ein paar Stufen neben einer Mauer hinuntergeführt. Sie zündete ihre Kerze wieder an. Sie öffnete eine für Kanalarbeiter bestimmte Tür und schloß sie hinter ihnen wieder.

In tiefster Dunkelheit stiegen sie ein paar Stufen hinab.

»Es gibt da ein Mädchen namens Door«, sagte Richard. »Sie ist ein bißchen jünger als du. Kennst du sie?«

»Lady Door. Ich weiß, wer das ist.«

»Und zu welcher, ähm, Baronie gehört sie?«

»Zu keiner. Sie stammt aus dem Hause Arch. Ihre Familie war früher sehr wichtig.«

»Früher? Wieso ist sie es jetzt nicht mehr?«

»Jemand hat sie umgebracht.«

Ja, ihm fiel ein, daß der Marquis so etwas gesagt hatte.

Eine Ratte lief ihnen über den Weg. Anaesthesia blieb auf der Treppe stehen und machte einen tiefen Knicks. Die Ratte hielt inne.

»Gnädiger Herr«, sagte sie zu der Ratte.

»Hi«, sagte Richard.

Die Ratte blickte sie einen Herzschlag lang an, dann schoß sie die Treppe hinunter.

»Also«, sagte Richard. »Was ist ein Wandermarkt?«

»Er ist sehr groß«, sagte sie. »Aber Rattensprecher gehen nur sehr selten zum Markt. Wenn ich ehrlich sein soll – « Sie zögerte. »Nee. Du lachst mich bloß aus.«

»Tu ich nicht«, sagte Richard ernsthaft.

»Na ja«, sagte das dünne Mädchen. »Ich habe ein bißchen Angst.«

»Angst? Vor dem Markt?«

Sie hatten den Fuß der Treppe erreicht. Anaesthesia zögerte und wandte sich dann nach links. »Oh. Nein. Auf dem Markt herrscht Waffenstillstand. Wenn einem dort jemand etwas antut, bekommt er es mit dem gesamten Unter-London zu tun …«

»Wovor hast du dann Angst?«

»Vor dem Weg dorthin. Der Markt wird jedesmal an einem anderen Ort abgehalten. Er wandert. Und um dort hinzukommen, wo er heute abend stattfindet … «, sie fingerte nervös an den Quarzperlen an ihrem Hals herum, »müssen wir durch eine sehr üble Gegend.« Sie hörte sich wirklich ängstlich an.

Richard unterdrückte den Impuls, den Arm um sie zu legen. »Und zwar?«

Sie drehte sich zu ihm um, strich sich die Haare aus den Augen und sagte: »Night’s Bridge.«

»Knightsbridge«, sagte Richard, und er begann leise zu lachen.

Sie wandte sich ab. »Siehst du?« sagte sie. »Ich hab’, ja gesagt, du lachst mich aus.«

Die tiefen Tunnel waren in den zwanziger Jahren für eine Hochgeschwindigkeitstraße der Northern Line gebaut worden. Im Zweiten Weltkrieg wurden hier Tausende von Soldaten einquartiert, ihre Abwässer mußten mit Druckluft bis zu den viel weiter oben gelegenen Sielen hochgepumpt werden: Metallene Etagenbetten säumten die Tunnel zu beiden Seiten. Als der Krieg zu Ende war, blieben die Etagenbetten dort, und auf ihren Drahtflächen wurden Pappkartons gelagert, alle voller Briefe und Akten und Papiere: Geheimnisse trostlosester Natur, tief unter der Erde aufbewahrt, dem Vergessen anheimgegeben.

Aufgrund von Sparmaßnahmen waren die tiefen Tunnel Anfang der neunziger Jahre endgültig geschlossen worden. Die Kartonladungen von Geheimnissen wurden herausgeholt und auf Computern gespeichert, geschreddert oder verbrannt.

Varney hauste im tiefsten der tiefen Tunnel, ganz weit unter der U-Bahn-Haltestelle Camden Town. Den einzigen Eingang hatte er mit metallenen Etagenbetten verbarrikadiert. Dann hatte er seine Wohnung dekoriert. Varney mochte Waffen. Er bastelte sie sich aus allem, was er finden, nehmen oder stehlen konnte. Aus Autoteilen und gebogenen Maschinenteilen machte er Haken, Messer, Armbrüste und Balester, kleine Katapulte und große Steinschleudermaschinen, mit denen man Mauern einreißen konnte, Keulen, Gleven und Kirris. Sie hingen an der Wand des tiefen Tunnels oder standen, gefährlich anzuschauen, in den Ecken herum.

Varney sah aus wie ein Stier, ein rasierter Stier ohne Hörner, voller Tätowierungen und mit total kaputten Zähnen. Außerdem schnarchte er.

Die Öllampe neben seinem Kopf brannte mit kleiner Flamme. Varney schlief auf einem Haufen Lumpen, schnarchend und schniefend, und das Heft eines zweischneidigen Schwerts lag neben seiner Rechten auf dem Boden.

Eine Hand drehte die Öllampe auf.

Varney hatte das zweischneidige Schwert gepackt, noch bevor er die Augen öffnete. Er blinzelte und schaute sich um. Es war niemand da: Der Bettenstapel, der die Tür versperrte, war unberührt. Langsam ließ er das Schwert sinken.

Eine Stimme sagte: »Psst.«

»Hh?« machte Varney.

»Überraschung!« sagte Mr. Croup und trat ins Licht.

Varney wich einen Schritt zurück: ein Fehler. Schon hatte er ein Messer an der Schläfe, die Klingenspitze neben seinem Auge.

»Ich würde Ihnen empfehlen, sich lieber nicht mehr zu bewegen«, sagte Mr. Croup zuvorkommend. »Mister Vandemar könnte aus Versehen mit seinem alten Krötenschlächter ausrutschen. Die meisten Unfälle passieren im Haushalt. Nicht wahr, Mister Vandemar?«

»Statistiken sind Schall und Rauch«, sagte Mr. Vandemars Stimme. Eine behandschuhte Hand langte hinter Varneys Rücken nach seinem Schwert, zerquetschte es und ließ die verbogenen Überreste zu Boden fallen.

»Wie geht es Ihnen, Varney?« fragte Mr. Croup. »Wir hoffen, gut? Ja? Gut in Form, frisch und munter für den Markt heute nacht? Wissen Sie, wer wir sind?«

Varney nickte, soweit er das konnte, ohne einen Muskel zu bewegen. Er wußte, wer Croup und Vandemar waren.

Seine Augen suchten die Wände ab. Ja, da: der Morgenstern – eine stachlige Holzkugel, gespickt mit Nägeln, an einer Kette in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes …

»Es geht die Kunde, daß eine gewisse junge Dame heute abend einen Leibwächter engagieren wird. Hatten Sie sich vielleicht mit dem Gedanken befaßt, sich für diese Tätigkeit zu bewerben?« Mr. Croup pulte sich in den Zähnen. »Artikulieren Sie deutlich.«

Varney nahm mit seinen Gedanken den Morgenstern von der Wand. Das war sein spezieller Trick. Vorsichtig, jetzt … langsam … Er hob ihn vom Haken und zog ihn bis zum obersten Punkt des Tunnelgewölbes hoch …