Mit dem Mund sagte er: »Varney ist der beste Bravo und Beschützer der Unterseite. Es heißt, ich sei der Beste seit Hunter.«
Varney positionierte den Morgenstern gedanklich im Schatten oberhalb von Mr. Croups Hinterkopf.
Er würde zuerst Croup den Schädel einschlagen, und dann wäre Vandemar an der Reihe …
Der Morgenstern fuhr auf Mr. Croups Kopf nieder: Varney warf sich zu Boden, fort von der Klinge an seinem Auge.
Mr. Croup sah nicht hoch. Er drehte sich nicht um. Er bewegte einfach den Kopf, unerhört schnell, und der Morgenstern flog an ihm vorbei und schlug im Boden ein, wo er Backstein- und Betonsplitt aufspritzen ließ.
Mr. Vandemar hob Varney mit einer Hand hoch. »Soll ich ihm wehtun?« fragte er seinen Kompagnon.
Mr. Croup schüttelte den Kopf: Noch nicht. Zu Varney sagte er: »Nicht schlecht. Also, ›bester Bravo und Beschützer‹, wir wollen, daß Sie heute auf den Markt gehen. Wir wollen, daß Sie alles daransetzen, der persönliche Leibwächter dieser gewissen jungen Dame zu werden. Dann, wenn Sie die Stellung haben, merken Sie sich eins: Sie dürfen sie vor der ganzen Welt beschützen, aber wenn wir sie haben wollen, bekommen wir sie. Verstanden?«
Varney fuhr mit der Zunge über seine Zahnruinen. »Wollen Sie mich bestechen?« fragte er.
Mr. Vandemar hatte den Morgenstern aufgehoben. Mit seiner freien Hand zerriß er die Kette Glied für Glied und ließ die verbogenen Metallteile zu Boden fallen. Tschink.
»Nein«, sagte Mr. Vandemar. Tschink. »Wir wollen Ihnen Angst machen.« Tschink. »Und wenn Sie nicht tun, was Mister Croup sagt, werden wir …« tschink »… Ihnen sehr …« tschink »… wehtun, bevor wir …« tschink »… Sie auf noch schmerzhaftere Art und Weise umbringen.«
»Ah«, sagte Varney. »Dann arbeite ich also für Sie?«
»Allerdings«, antwortete Mr. Croup. »Ich fürchte jedoch, wir haben keine guten Seiten.«
»Das macht nichts«, sagte Varney.
»Gut«, erwiderte Mr. Croup. »Willkommen an Bord.«
Es war ein raffinierter Mechanismus, aus poliertem Walnußholz, aus Messing und Glas, aus Kupfer und Spiegeln und geschnitzten Elfenbeinintarsien, aus Quarzprismen und Hebeln und Federn und Zahnrädern aus Messing. Das Ganze war größer als ein Fernseher, obgleich der eigentliche Bildschirm nicht mehr als fünfzehn Zentimeter Durchmesser hatte. Eine Lupe vor dem Schirm vergrößerte das Bild.
Ein großer Messingtrichter, wie man ihn an antiken Grammophonen findet, ragte seitlich daraus hervor. Die ganze Vorrichtung glich einem kombinierten Fernseh-und Videogerät, das vor dreihundert Jahren von Sir Isaac Newton erfunden und gebaut worden war. Und genau das war es auch mehr oder weniger.
»Schauen Sie her«, sagte Door.
Sie legte die Holzkugel auf eine Plattform. Licht schien durch das Gerät in die Kugel. Sie begann sich zu drehen.
Ein aristokratisches Gesicht erschien in leuchtenden Farben auf dem kleinen Bildschirm. Nicht ganz lippensynchron erklang eine Stimme aus dem Schalltrichter, durch Knistern gestört.
»… daß zwei Städte einander so nah und doch in jeder Hinsicht so fern sein können; über uns die Besitzenden, und darunter und dazwischen wir, die Besitzlosen, die wir durchs Netz gefallen sind.«
Door starrte auf den Bildschirm. Ihr Gesicht war blaß.
»… Ich bin immer noch der Meinung, daß das, was uns, die wir die Unterseite bewohnen, lähmt, unser engstirniger Partikularismus ist. Das System der Baronien und Lehnsgüter stiftet Zwietracht und ist töricht.« Lord Portico trug ein verschlissenes altes Smokingjackett und eine Kalotte. Seine Stimme schien durch die Jahrhunderte, nicht durch Tage oder Wochen zu ihnen zu dringen.
Er hustete.
»Ich stehe mit dieser Überzeugung nicht allein. Es gibt Leute, die wollen, daß die Dinge so bleiben, wie sie sind. Es gibt andere, die wollen, daß sich die Lage noch verschlimmert. Es gibt solche …«
»Können Sie das beschleunigen?« fragte der Marquis.
Door nickte. Sie berührte einen elfenbeinernen Hebel an der Seite des Geräts: Das Bild verschwamm, zerfiel und formte sich neu.
Jetzt trug Portico einen Mantel. Seine Kalotte war verschwunden. An der einen Seite seines Kopfes hatte er eine Schnittwunde. Er saß nicht mehr an seinem Schreibtisch. Er sprach eindringlich und leise. »Ich weiß nicht, wer dies sehen wird, wer dies finden wird. Doch wer Sie auch sind, bitte überbringen Sie es meiner Tochter Door, wenn sie noch am Leben ist …« Eine Störung verwischte Bild und Ton.
»Door? Mädchen, es steht sehr schlimm. Ich weiß nicht, wie lange ich noch Zeit habe, bevor sie diesen Raum finden. Ich glaube, meine arme Portia, dein Bruder und deine Schwester sind tot.«
Die Ton- und Bildqualität ließen nach.
Der Marquis warf Door einen Blick zu. Ihr Gesicht war naß: Tränen quollen aus ihren Augen und glitzerten auf ihren Wangen. Sie schien nicht zu merken, daß sie weinte, und machte keine Anstalten, die Tränen wegzuwischen. Sie starrte nur ihren Vater auf dem Schirm an und lauschte seinen Worten.
Knister. Verschwimm. Knister. »Hör mir zu, Mädchen«, sagte ihr toter Vater. »Geh zu Islington … Islington kannst du trauen … Du mußt mir glauben … Islington …«
Er verschwamm. Blut war von seiner Stirn in seine Augen getropft, und er wischte es weg. »Door? Räche uns. Räche deine Familie.« Ein lauter Knall kam aus dem Grammophontrichter. Portico wandte seinen Blick ins Off, fragend und angstvoll. »Was?«
Er ging aus dem Bild. Einen Moment lang blieb das Bild stehen: der Schreibtisch, die leere weiße Wand dahinter. Dann spritzte leuchtendrotes Blut im hohen Bogen an die Wand.
Door legte einen Hebel an der Seite um, der Bildschirm verlosch, und sie wandte sich ab.
»Hier.« Der Marquis reichte ihr ein Taschentuch.
»Danke.« Sie wischte sich das Gesicht ab und putzte sich kräftig die Nase. Dann starrte sie ins Leere. Schließlich sagte sie: »Islington.«
»Ich hatte noch nie etwas mit Islington zu tun«, sagte der Marquis.
»Ich dachte, er sei bloß eine Legende«, sagte sie.
»Keineswegs.«
Er langte über den Schreibtisch, nahm eine goldene Taschenuhr in die Hand und ließ sie aufschnappen. »Gute Arbeit«, bemerkte er.
Sie nickte. »Sie gehörte meinem Vater.«
Er schloß den Deckel mit einem Klicken. »Zeit, zum Markt zu gehen. Er fängt bald an. Wir haben nicht ewig Zeit.«
Sie putzte sich noch einmal die Nase und steckte ihre Hände tief in die Taschen ihrer Lederjacke. Dann drehte sie sich zu ihm um, die Stirn ihres koboldhaften Gesichts gerunzelt. Die seltsam gefärbten Augen leuchteten. »Glauben Sie ernsthaft, daß wir einen Leibwächter finden, der mit Croup und Vandemar fertig wird?«
Der Marquis ließ seine weißen Zähne blitzen. »Seit Hunter hat es niemanden mehr gegeben, der eine Chance gegen sie gehabt hätte. Nein, mir genügt schon jemand, der Ihnen genug Zeit verschafft, damit Sie verschwinden können.«
Er befestigte das Ende der Uhrenkette an seinem Wams und ließ die Uhr in seine Uhrentasche gleiten.
»Was tun Sie da?« fragte Door. »Das ist die Uhr meines Vaters.«
»Er braucht sie doch nicht mehr, oder? Na also. Sieht ziemlich elegant aus.«
Er beobachtete, wie die Gefühle über ihr Gesicht flackerten: Kummer, Wut, Resignation.
»Gehen wir«, sagte sie.
»Jetzt ist es nicht mehr weit bis zur Night’s Bridge«, sagte Anaesthesia.
Richard hoffte, daß sie recht hatte. Sie waren schon bei der dritten Kerze angelangt. Es wunderte ihn, daß sie sich immer noch unter London befanden: Er war sich beinahe sicher, daß sie schon fast bis nach Land’s End gelaufen waren.