»Ich hab’ solche Angst«, fuhr sie fort. »Ich bin noch nie über die Brücke gegangen.«
»Ich dachte, du wärst schon einmal auf diesem Markt gewesen.«
»Das ist ein Wandermarkt, du Dummkopf. Hab’ ich dir doch gesagt. Er bewegt sich. Von einem Ort zum anderen. Der letzte, bei dem ich war, fand in diesem großen Uhrenturm statt. Big … Dingsda. Und der nächste war – «
»Big Ben?«
»Kann sein. Da waren wir drinnen, da, wo sich diese großen Räder drehen, und ich hab’ das hier gekauft – «
Sie hielt ihre Halskette hoch. Das Kerzenlicht spiegelte sich gelb schimmernd in dem glänzenden Quarz. Sie lächelte wie ein Kind.
»Gefällt sie dir?« fragte sie.
»Sie ist toll. War sie teuer?«
»Ich hab’ sie gegen was eingetauscht. So läuft das hier unten. Wir tauschen.«
Und dann bogen sie um eine Ecke und erblickten die Brücke. Es hätte auch eine der Themse-Brücken sein können, dachte Richard; eine riesige steinerne Brücke, die sich über einen Abgrund in die Nacht spannte. Doch darüber war kein Himmel und darunter kein Wasser.
Sie stieg empor in die Finsternis.
Richard fragte sich, wer sie gebaut hatte und wann. Er fragte sich, wie so etwas unter London existieren konnte, ohne daß alle davon wußten.
Hinter sich hörte er Stimmengemurmel.
Jemand stieß Richard zu Boden. Er schaute hoch. Ein riesiger Mann, primitiv tätowiert, in zusammengeflickten Gummi- und Ledersachen, die aussahen, als seien sie aus Autos herausgeschnitten worden, starrte auf ihn herab. Ihm folgten ein Dutzend andere, männlich wie weiblich: Leute, die aussahen, als seien sie auf dem Weg zu einem besonders armseligen Kostümfest.
»Jemand«, sagte Varney, der nicht gerade bester Stimmung war, »stand mir im Weg. Jemand sollte aufpassen, wo er hintritt.«
Richard hatte mal als kleiner Junge auf dem Heimweg von der Schule eine Ratte gesehen, in einem Graben neben der Straße. Als die Ratte Richard erblickte, hatte sie sich auf die Hinterbeine gestellt, gefaucht, einen Satz gemacht und Richard eine Heidenangst eingejagt. Er war zurückgewichen, verblüfft, daß etwas so Kleines so entschlossen war, sich mit etwas so viel Größerem anzulegen.
Anaesthesia trat zwischen Richard und Varney. Sie funkelte den großen Mann an und fauchte wie eine in die Enge getriebene, wütende Ratte. Varney trat einen Schritt zurück.
Er spuckte Richard auf die Schuhe. Dann wandte er sich ab, und das Grüppchen ging über die Brücke in die Dunkelheit. »Alles in Ordnung?« fragte Anaesthesia und half Richard wieder auf die Beine.
»Mir fehlt nichts«, sagte er. »Das war wirklich mutig von dir.«
Sie schaute schüchtern zu Boden. »Eigentlich bin ich gar nicht mutig«, sagte sie. »Ich fürchte mich immer noch vor der Brücke. Selbst die da eben hatten Angst. Deshalb sind sie alle zusammen rübergegangen. Zu mehreren fühlen sie sich sicherer. Die mit ihrer großen Klappe.«
»Wenn Sie über die Brücke gehen, komme ich mit«, sagte eine weibliche Stimme.
Richard sollte es nie gelingen, ihren Akzent einzuordnen. Damals dachte er, sie sei Kanadierin oder Amerikanerin. Später meinte er, sie könnte Afrikanerin gewesen sein oder Australierin oder sogar Inderin. Er konnte es einfach nicht sagen.
Sie war eine große Frau mit langem lohfarbenem Haar und dunkler karamelfarbener Haut. Sie trug graubraun marmoriertes Leder. Über ihre Schulter hing ein abgenutzter lederner Matchbeutel.
Sie hatte einen Stab in der Hand, in ihrem Gürtel steckte ein Messer, und an ihrem Handgelenk war eine Taschenlampe befestigt.
Sie war zweifelsohne die schönste Frau, die Richard je gesehen hatte.
»Zu mehreren fühlt man sich sicherer. Sie können gerne mit uns kommen«, sagte er nach kurzem Zögern. »Mein Name ist Richard Mayhew. Das ist Anaesthesia. Sie ist diejenige von uns beiden, die weiß, was sie tut.«
Das Rattenmädchen warf sich in die Brust.
Die Lederfrau musterte ihn von oben bis unten. »Sie kommen aus Ober-London«, stellte sie fest.
»Ja.«
»Und reisen mit einer Rattensprecherin. Gute Güte.«
»Ich bin seine Beschützerin«, sagte Anaesthesia trotzig. »Wer sind Sie? Wem sind Sie untertan?«
Die Frau lächelte. »Ich bin niemandem untertan, Rattenmädchen. Ist einer von euch schon mal über die Night’s Bridge gegangen?«
Anaesthesia schüttelte den Kopf.
»Aha. Na, das kann ja was werden.«
Sie gingen auf die Brücke zu.
Anaesthesia reichte Richard ihre Lampe. »Hier«, sagte sie.
»Danke.« Richard schaute die Frau in Leder an. »Gibt es denn da wirklich etwas, vor dem man Angst haben müßte?«
»Nur die Nacht auf der Brücke«, sagte sie.
»Die Nacht? Ich dachte, es heißt Knightsbridge – Ritterbrücke. «
»Nein, bei uns ist es die Night’s Bridge, die Brücke der Nacht.«
Anaesthesias winzige Hand suchte Richards. Er hielt sie fest. Sie lächelte ihn an und drückte ihm die Hand.
Und dann betraten sie die Brücke, und Richard begann zu begreifen, was Dunkelheit ist: etwas Festes und Reales.
Er spürte die Berührung der Finsternis auf seiner Haut, suchend, wandernd, forschend glitt sie durch seine Gedanken. Sie drang in seine Lungen, hinter seine Augen, in seinen Mund …
Mit jedem Schritt wurde das Licht der Kerze schwächer. Er stellte fest, daß auch die Taschenlampe der Lederfrau ihren Geist aufgab.
Finsternis, völlige Finsternis.
Geräusche. Ein Rascheln, ein Zucken. Richard blinzelte, geblendet von der Nacht.
Die Geräusche wurden häßlicher, hungriger. Richard glaubte, Stimmen zu hören: eine Horde riesiger, mißgebildeter Trolle unter der Brücke …
Irgend etwas glitt im Dunkeln an ihnen vorbei.
»Was ist das?« quiekte Anaesthesia. Ihre Hand zitterte in seiner.
»Still«, flüsterte die Frau. »Mach sie nicht auf uns aufmerksam. «
»Was geht hier vor?« flüsterte Richard.
»Die Finsternis«, sagte die Lederfrau sehr leise. »All die Alpträume, die seit der Zeit, als wir noch in Höhlen wohnten, als wir voll Angst zusammenrückten, um uns sicher zu fühlen und es warm zu haben, herauskommen, wenn die Sonne untergeht. Jetzt ist es an der Zeit, Angst vor der Dunkelheit zu haben.«
Richard wußte, daß ihm gleich etwas übers Gesicht krabbeln würde. Er schloß die Augen: An dem, was er sah und spürte, änderte das nichts. Die Nacht war vollkommen.
Und dann begannen die Halluzinationen.
Er sah eine Gestalt, die brennend durch die Nacht auf ihn herabfiel. Ihre Flügel und Haare standen in Flammen.
Er riß die Hände hoch: Da war nichts.
Jessica schaute ihn an, mit Verachtung im Blick.
Er wollte ihr etwas zurufen, ihr sagen, daß es ihm leid tat.
Einen Fuß nach dem anderen.
Er war ein kleines Kind auf dem Heimweg von der Schule, abends, auf der einzigen Straße ohne Beleuchtung. Egal, wie oft er den Weg ging, er wurde nie leichter, wurde nie besser.
Er steckte tief in der Kanalisation, hatte sich in einem Labyrinth verirrt. Das Ungeheuer wartete auf ihn.
Er hörte langsam fallende Wassertropfen. Er wußte, daß das Ungeheuer wartete. Er umklammerte seinen Speer … Dann ein Grollen, tief in der Kehle des Ungeheuers hinter ihm. Er drehte sich um. Langsam, quälend langsam ging es durch die Finsternis auf ihn los.
Und es war bei ihm.
Er starb.
Und ging immer weiter.
Langsam, quälend langsam ging es auf ihn los, wieder und wieder, durch die Finsternis …
Es zischte, und eine Flamme leuchtete auf, so hell, daß es wehtat. Es war die Kerzenflamme in ihrer Lucozade-Flasche. Er hatte nicht gewußt, wie hell eine einzelne Kerze brennen kann. Stolz hielt er sie hoch.