»Wie es scheint, sind wir heil hinübergekommen«, sagte die Lederfrau.
Richard merkte, daß ihm das Herz bis zum Halse schlug, daß er nicht in der Lage war zu sprechen. Er zwang sich, langsam zu atmen, ruhig zu werden.
»Ich nehme an«, sagte er stockend, »wir waren gar nicht wirklich in Gefahr. Es war wie in einer Geisterbahn … ein paar Geräusche im Dunkeln. Die Fantasie besorgt den Rest. Es gab doch keinen Grund, sich zu fürchten, oder?«
Die Frau sah ihn beinahe mitleidig an, und Richard bemerkte, daß niemand seine Hand hielt.
»Anaesthesia?«
Aus der Dunkelheit am Scheitelpunkt der Brücke kam ein schwaches Geräusch, eine Art Rascheln oder Seufzen. Eine Handvoll unregelmäßig geformter Quarzperlen klickerte die Wölbung der Brücke hinab auf sie zu.
Richard hob eine auf. Sie stammte aus der Halskette des Rattenmädchens.
»Wir sollten. Wir müssen zurück. Sie ist …«
Die Frau hielt ihre Taschenlampe hoch und leuchtete damit über die Brücke. Richard konnte bis ganz hinüber sehen. Sie war menschenleer.
»Wo ist sie?«
»Weg«, sagte die Frau ungerührt. »Die Finsternis hat sie geholt.«
»Wir müssen etwas tun«, sagte Richard. »Zum Beispiel? «
Er öffnete den Mund. Schloß ihn wieder. Er betastete den Quarzklumpen und sah auf die anderen am Boden hinunter. »Ich weiß nicht.«
»Sie ist nicht mehr«, sagte die Frau. »Die Brücke fordert ihren Tribut. Seien Sie dankbar, daß sie Sie nicht auch geholt hat. Also, zum Markt geht es hier entlang. Kommen Sie?«
Richard stand ein paar hämmernde Herzschläge lang in der Dunkelheit, dann stopfte er die Quarzperle in die Tasche seiner Jeans und folgte der Frau, die ihm einige Schritte vorausging.
Während er hinter ihr herlief, stellte er fest, daß er immer noch nicht ihren Namen wußte.
Kapitel Fünf
Menschen wuselten durch die Dunkelheit um sie herum, Lampen und Fackeln und Kerzen in den Händen. Richard mußte an Filme über Fische denken, die in glitzernden Schwärmen durch den Ozean flitzen … Tiefes Wasser, bewohnt von Dingen, die ihre Augen nicht mehr gebrauchen konnten. Da verlor man wirklich den Boden unter den Füßen …
Richard folgte der Lederfrau ein paar Stufen hoch. Mit Metall eingefaßte Steinstufen. Sie befanden sich in einer U-Bahn-Haltestelle.
Sie reihten sich in eine Schlange von Leuten ein, die darauf warteten, durch ein etwa dreißig Zentimeter weit geöffnetes Gitter schlüpfen zu können. Dahinter war die Tür, die hinaus auf die Straße führte.
Direkt vor ihnen standen ein paar kleine Jungs, jeder mit einem Band ums Handgelenk. Die Bänder wurden von einem bleichen, kahlköpfigen Mann gehalten, der nach Formaldehyd roch. Gleich hinter ihnen wartete ein Graubärtiger mit einem schwarzweißen Kätzchen auf der Schulter. Es putzte sich ausgiebig, leckte dem Mann das Ohr, rollte sich dann auf seiner Schulter zusammen und schlief ein.
Langsam bewegte sich die Schlange vorwärts, während die Gestalten an ihrem Ende eine nach der anderen zwischen dem Gitter und der Wand hindurchschlüpften und in die Nacht hinausdrängten.
»Weshalb gehen Sie zum Markt, Richard Mayhew?« fragte die Lederfrau leise.
»Ich habe Freunde, die ich dort zu treffen hoffe. Na ja, eigentlich nur eine Freundin. Ich kenne nicht viele Leute aus dieser Welt. Ich war gerade dabei, Anaesthesia besser kennenzulernen, aber …« Stellte die Frage. »Ist sie tot?«
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Ja. Oder so gut wie. Ich hoffe, Ihr Marktbesuch ist ihren Tod wert.«
Richard schauderte. »Ich auch«, sagte er.
Sie näherten sich dem vorderen Ende der Schlange. »Was machen Sie eigentlich?« fragte er.
Sie lächelte. »Ich biete physische Dienste für den persönlichen Gebrauch an.«
»Ach«, sagte er. Dann: »Was für physische Dienste?«
»Ich vermiete meinen Körper.«
»Ah.«
Und sie traten in die Nacht hinaus.
Richard sah sich um. Auf dem Schild über der Haltestelle stand Knightsbridge. Er wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Seinem Gefühl nach mußte es kurz vor Morgengrauen sein. Richard sah auf seine Armbanduhr und war nicht überrascht festzustellen, daß die Digitalanzeige jetzt völlig blind war. Vielleicht waren die Batterien leer. Vielleicht hatte die Zeit in Unter-London nur wenig mit der Zeit zu tun, wie er sie kannte. Er band die Uhr ab und warf sie in den nächsten Mülleimer.
Der seltsame Menschenstrom überquerte die Straße und ging durch die Doppeltür gegenüber.
»Da?« fragte er entsetzt.
Die Frau nickte. »Da.«
Das Gebäude war groß und hing voller Lichter. An der Wand vor ihrer Nase konnte man auffälligen Wappen entnehmen, daß es hier alle möglichen von Hoflieferanten verschiedener Mitglieder der Königlichen Familie hergestellten Produkte zu kaufen gab. Richard, der von Jessica an den Wochenenden stundenlang mit schmerzenden Füßen durch alle maßgeblichen Geschäfte Londons geschleift worden war, hätte den Ort auch ohne das riesige Schild erkannt, auf dem stand:
»Harrods.«
Die Frau nickte. »Nur für heute nacht«, sagte sie. »Der nächste Markt kann ganz woanders stattfinden.«
»Also ehrlich«, sagte Richard. »Harrods.«
Sie traten durch die Seitentür ein. Der Raum war dunkel. Sie passierten das Bureau de Change und die Geschenkpapierabteilung. Durchquerten einen weiteren dunklen Raum, in dem Sonnenbrillen und Figurinen verkauft wurden. Und dann standen sie im Ägyptischen Saal. Farbe und Licht trafen Richard wie ein Schlag vor die Brust. Seine Begleiterin drehte sich zu ihm um: Sie gähnte katzenhaft und verbarg dabei das leuchtende Rosa ihres Mundes mit dem Handrücken.
»Also. Sie sind da. Gesund und mehr oder weniger munter. Ich muß mich um meine Geschäfte kümmern. Leben Sie wohl.« Sie nickte knapp und verschwand in der Menge.
Richard stand da, allein im Gedränge, und ließ das Geschehen um ihn herum auf sich einwirken.
Es war der reinste Irrsinn. Soviel stand fest.
Es war laut. Menschen stritten, feilschten, schrien, sangen. Sie boten vollmundig ihre Waren feil und priesen lauthals deren überragende Qualität. Musik war zu hören – ein Dutzend verschiedener Arten von Musik, in einem Dutzend verschiedener Stile auf einer Unzahl verschiedener Instrumente gespielt, die meisten undefinierbar, unvollkommen, unglaublich.
Richard roch Essen. Alle Arten von Essen.
Im ganzen Geschäft waren Marktbuden aufgebaut. Neben oder sogar auf den Tresen, an denen tagsüber Parfüm, Armbanduhren, Bernsteinschmuck oder Seidenschals verkauft wurden, hatten die Leute ihre improvisierten Stände aufgeschlagen.
Jeder kaufte. Jeder verkaufte.
Wie in Trance wanderte Richard durch die riesigen Hallen des Kaufhauses. Er hatte keine Ahnung, wie viele Menschen wohl auf dem Markt waren: Tausend? Zweitausend? Fünftausend?
An einem Stand stapelten sich Flaschen, volle Flaschen und leere Flaschen jeder Form und jeder Größe; an einem anderen wurden Lampen und Kerzen verkauft; Richard kam an einer Bude vorbei, an der man glitzernden Gold-und Silberschmuck erstehen konnte; an wieder einer anderen gab es Schmuck, der aussah, als wäre er aus den Innereien alter Radios gefertigt worden; er stieß auf Stände, die alle Arten von Büchern verkauften; andere boten Kleidung an – geflickt und neu und seltsam; es gab Tätowierer; einen Zahnarzt; einen gebeugten alten Mann, der Hüte verkaufte; etwas, das sehr nach einer Vorrichtung zum Baden aussah; sogar einen Hufschmied …
Und alle paar Stände verkaufte jemand Essen. Einige Budenbesitzer kochten und backten am offenen Feuer: Currygerichte und Kartoffeln und Kastanien und Pilze und Brote.