Richard ertappte sich dabei, daß er sich fragte, wieso der Rauch von den Feuerstellen nicht das Sprinklersystem des Gebäudes auslöste. Als nächstes ertappte er sich dabei, daß er sich fragte, wieso niemand das Kaufhaus plünderte: Wieso bauten sie ihre eigenen Büdchen auf? Wieso nahmen sie sich nicht einfach die Sachen aus dem Kaufhaus?
Diese Menschen erinnerten sehr an Angehörige irgendwelcher Stämme, fand Richard. Er versuchte, verschiedene Gruppen auszumachen: Da gab es die, die aussahen, als wären sie aus einer Theatergruppe zum Nachspielen historischer Szenen weggelaufen; diejenigen, die ihn an Hippies erinnerten; die Albinomenschen in grauen Sachen und mit dunkler Brille, die Geschniegelten, Gefährlichen in schicken Anzügen und schwarzen Handschuhen, die riesengroßen, beinahe identisch aussehenden Frauen, die zu zweit oder zu dritt umhergingen und nickten, wenn sie einander sahen; die Leute mit den wirren Haaren, die zum Himmel stanken und so aussahen, als lebten sie in der Kanalisation; und hundert andere … Er fragte sich, wie normal London – sein London – auf jemanden aus einer anderen Welt wirken mochte. Und das machte ihn mutig.
Während er so umherlief, begann er Leute zu fragen:
»Verzeihung? Ich suche einen Mann namens de Carabas und ein Mädchen namens Door. Wissen Sie, wo ich sie finden kann?«
Die Menschen schüttelten den Kopf, wandten den Blick ab, wichen aus, entschuldigten sich.
Richard machte einen Schritt zurück und trat jemandem auf den Fuß.
Jemand war gut zwei Meter zehn groß und von büscheligem rotem Haar bedeckt. Seine Zähne waren spitz geschliffen. Jemand hob Richard mit einer Hand hoch, die so groß war wie ein Schafskopf, und hielt Richards Kopf so dicht vor seinen Mund, daß Richard beinahe würgen mußte.
»Entschuldigen Sie vielmals«, sagte Richard. »Ich – ich suche ein Mädchen namens Door. Wissen Sie – «
Doch jemand ließ ihn auf die Erde fallen und ging weiter.
Ein Duft nach gekochtem Essen wehte über den Boden, und Richard, der tatsächlich vergessen hatte, wie hungrig er war (seit er – vor wie vielen Stunden, wußte er nicht – das feinste Stück vom Katzenbraten verschmäht hatte), stellte fest, daß ihm das Wasser im Munde zusammenlief und sein Denkvermögen kurz vorm Aussetzen war.
Die eisenhaarige Frau, die den nächstgelegenen Essensstand betrieb, reichte Richard nicht mal bis zur Taille. Als Richard versuchte, sie anzusprechen, schüttelte sie den Kopf und fuhr sich mit dem Finger über die Lippen. Sie konnte nicht sprechen, oder sie sprach einfach nicht, oder sie wollte nicht sprechen. Richard blieb nichts anderes übrig, als die Verhandlungen um ein Sandwich mit Hüttenkäse und grünem Salat und einen Becher mit einer Flüssigkeit, die wie eine Art selbstgemachter Limonade aussah und roch, in Gebärdensprache zu führen.
Sein Essen kostete ihn einen Kugelschreiber und ein Streichholzbriefchen, von dessen Existenz er nichts mehr gewußt hatte.
Die kleine Frau mußte der Ansicht gewesen sein, sie sei bei dem Handel viel zu gut weggekommen, denn als er sein Essen entgegennahm, schenkte sie ihm noch ein paar kleine, nussige Kekse dazu.
Richard stand mitten im Gedränge und lauschte der Musik – aus irgendeinem Grund, der sich ihm nicht so ohne weiteres erschloß, sang jemand den Text von ›Greensleeves‹ zur Melodie von ›Yackety-Yak‹ –, sah zu, wie sich der bizarre Basar um ihn herum entfaltete, und aß sein Sandwich.
Als er damit fertig war, stellte er fest, daß er sich nicht an den Geschmack dessen, was er da gerade verzehrt hatte, erinnern konnte, und er beschloß, sich etwas zu bremsen und die Kekse langsamer zu kauen. Die Limonade trank er in ganz kleinen Schlucken, damit sie länger reichte.
»Brauchen Sie einen Vogel, mein Herr?« fragte eine muntere Stimme direkt neben ihm. »Ich habe Krähen und Raben, Dohlen und Stare. Schöne, kluge Vögel. Schmackhaft und schlau. Ganz fantastisch.«
Richard sagte: »Nein, danke«, und drehte sich um.
Auf dem handgemalten Schild über der Bude stand: »OLD BAILEY – VÖGEL UND INFORMATIONEN«
Darum herum hingen weitere, kleinere Schilder: »ANTWORTEN AUF ALLE FRAGEN!« und »NUR HIER – DIE FETTESTEN STARE!!!!« und »APPETIT AUF KRÄHE? KOMMEN SIE ZU OLD BAILEY!!« Richard fühlte sich an einen Mann erinnert, den er mal gesehen hatte, als er gerade frisch in London angekommen war. Der Mann hatte vor der U-Bahn-Haltestelle Leicester Square gestanden, ein Werbetafel-Sandwich umgehängt mit der Aufschrift: »Weniger Geilheit durch weniger Proteine, Eier, Fleisch, Bohnen, Käse und Sitzen.« Vögel hüpften und flatterten in kleinen Käfigen herum, die aussahen, als seien sie aus Fernsehantennen geflochten.
»Dann vielleicht Informationen?« fuhr Old Bailey, ganz Geschäftsmann, fort. »Dachkarten? Historisches? Geheimnisse und Mysterien? Was ich nicht weiß, macht niemanden heiß, pflege ich zu sagen.«
Der alte Mann hatte immer noch seinen Federmantel an und war immer noch mit Stricken und Seilen umwickelt. Er blinzelte Richard an, setzte dann eine Brille auf, die an einem Band um seinen Hals hing, und inspizierte ihn sorgfältig.
»Momentchen. Dich kenn’ ich. Du warst doch mit dem Marquis de Carabas oben auf den Dächern. Weißt du noch? He? Ich bin Old Bailey. Kennst mich noch?« Er streckte seine Hand aus und schüttelte Richards heftig.
»Den Marquis«, sagte Richard, »suche ich gerade. Und eine junge Dame namens Door. Ich nehme an, sie sind zusammen unterwegs.«
Der alte Mann machte einen kleinen Sprung, woraufhin sich mehrere Federn von seinem Mantel lösten und die verschiedenen Vögel um die beiden herum sich heiser beschwerten.
»Informationen! Informationen!« posaunte er in den vor Menschen wimmelnden Raum hinaus. »Siehst du? Ich hab’s ihnen gesagt. Ihr müßt euer Angebot erweitern, hab’ ich gesagt. Erweitern! Man kann nicht ewig Krähen für den Eintopf verkaufen – die schmecken sowieso wie ausgekochte Pantoffeln. Und außerdem sind sie dämlich. Dumm wie Bohnenstroh. Schon mal Krähe gegessen?« Richard schüttelte den Kopf. Das wenigstens wußte er genau.
»Was gibst du mir?« fragte Old Bailey.
»Wie bitte?« fragte Richard, der Mühe hatte, im Bewußtseinsstrom des alten Mannes von einer Eisscholle zur nächsten zu springen.
»Wenn ich dir deine Informationen gebe. Was kriege ich dafür?«
»Geld habe ich nicht«, sagte Richard. »Und meinen Kugelschreiber habe ich gerade weggegeben.«
Er begann, seine Taschen zu leeren.
»Da!« sagte Old Bailey. »Das!«
»Mein Taschentuch?« fragte Richard. Es war kein ausgesprochen sauberes Taschentuch; seine Tante Maude hatte es ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt.
Old Bailey riß es ihm aus der Hand und schwenkte es glücklich über seinem Kopf.
»Sei ohne Furcht, mein Junge!« jubilierte er. »Deine Suche ist zu Ende! Geh dort entlang, durch jene Tür. Du kannst sie nicht verfehlen. Sie schauen sich gerade Bewerber an.«
Eine Krähe krächzte gehässig.
»Halt den Schnabel«, sagte Old Bailey zu der Krähe. Und zu Richard sagte er: »Dank sei dir für die kleine Flagge.«
Er hüpfte erfreut um seinen Stand herum und schwenkte Richards Taschentuch hin und her.
Bewerber? dachte Richard. Und dann lächelte er. Es spielte keine Rolle. Seine Suche war, wie der verrückte alte Dachmann gesagt hatte, zu Ende.
Er machte sich auf den Weg zur Lebensmittelabteilung.
Trends waren für einen Leibwächter die Hauptsache. Sie alle beherrschten irgendeinen Trick, und jeder war sehr darauf erpicht, diesen öffentlich vorzuführen.
In diesem Moment standen sich Ruislip und der Lackaffe ohne Namen gegenüber.
Der Lackaffe ohne Namen sah ein wenig aus wie ein Lebemann des frühen achtzehnten Jahrhunderts, der nicht das Richtige zum Anziehen gefunden hatte und sich deshalb mit dem behelfen mußte, was die Second-hand-Läden hergaben. Sein Gesicht war weiß gepudert, seine Lippen aufgemalt.