»Warum mußtest du herkommen?« fragte Door frostig.
»Mir blieb kaum eine andere Wahl«, erwiderte Richard.
Sie seufzte.
Der Marquis schritt den Kreis ab, entließ die Leibwächter, die sich bereits vorgestellt hatten, verteilte hier ein paar lobende Worte, dort einen guten Rat. Varney wartete geduldig ein wenig abseits.
Unsicher lächelte Richard Door an. Keine Reaktion.
»Wie bist du zum Markt gekommen?« fragte sie.
»Es gibt da diese Rattenmenschen – « begann Richard.
»Rattensprecher«, sagte sie.
»Und, weißt du, die Ratte, die uns die Nachricht des Marquis gebracht hat – «
»Master Longtail«, sagte sie.
»Also, der hat ihnen gesagt, sie sollten mich herbringen. «
Sie zog eine Augenbraue hoch und legte den Kopf leicht zur Seite. »Ein Rattensprecher hat dich hergebracht ?«
Er nickte. »Fast den ganzen Weg. Ihr Name war Anaesthesia. Sie … na ja, ihr ist etwas zugestoßen. Auf der Brücke. Den Rest des Wegs hat mich eine andere Lady begleitet. Ich glaube, das war eine. Du weißt schon.« Er zögerte, dann sagte er es. »Nutte.«
Der Marquis war zurückgekehrt. Er baute sich vor Varney auf, der widerlich selbstzufrieden aussah.
»Welche Waffen beherrschen Sie?« fragte der Marquis.
»Puh«, sagte Varney. »Ich will’s mal so ausdrücken: Varney kann mit allem umgehen, womit man Leute stechen, ihnen den Kopf wegpusten, die Knochen brechen oder häßliche Löcher zufügen kann.«
»Wo waren Sie früher beschäftigt?«
»Bei Olympia, der Sheperd Queen, den Crouch Endern. Außerdem habe ich ein bißchen für den Sicherheitsdienst von May Fair gearbeitet.«
»Nun ja«, sagte der Marquis de Carabas. »Wir alle sind von Ihren Fähigkeiten sehr beeindruckt.«
»Ich dachte«, sagte eine weibliche Stimme, »Sie hätten eine Stelle für einen Leibwächter ausgeschrieben. Nicht für einen blutigen Laien.«
Ihre Haut hatte die Farbe warmen Karamels, und ihr Lächeln hätte eine Revolution aufhalten können. Sie war ganz und gar in weiches graubraunes Leder gekleidet.
»Das ist sie«, flüsterte Richard Door zu. »Die Nutte.«
»Varney«, sagte Varney beleidigt, »ist der beste Beschützer und Bravo der Unterseite. Das weiß doch jeder.«
Die Frau sah den Marquis an. »Sind die Kämpfe schon beendet?« fragte sie.
»Ja«, sagte Varney.
»Nicht unbedingt«, sagte der Marquis.
»Dann«, sagte sie ihm, »würde ich gern antreten.«
Ein kurzer Moment verstrich, bis der Marquis de Carabas sagte: »Wie Sie wollen«, zurücktrat und sich auf die Räucherlachstheke schwang, von der aus er bequem zuschauen konnte.
Varney war zweifelsohne gefährlich und vor allem ein brutaler Schläger, ein Sadist. Er schadete der körperlichen Gesundheit der Menschen in seiner Umgebung. Eine besonders schnelle Auffassungsgabe hatte er allerdings nicht. Er starrte den Marquis an, und der Groschen fiel und fiel und fiel immer noch. Schließlich fragte er ungläubig: »Gegen die soll ich kämpfen?«
»Ja«, sagte die Lederfrau. »Es sei denn, Sie wollen sich erst noch ein bißchen hinlegen.«
Varney begann zu lachen: ein irres Kichern.
Einen Moment später hörte er auf zu lachen, denn die Frau hatte ihm mit Wucht in den Solarplexus getreten, und er kippte um wie ein Baum.
Neben seiner Hand lag das Brecheisen auf dem Boden, das er in dem Kampf gegen den Zwerg benutzt hatte. Er schnappte es sich und rammte es der Frau ins Gesicht – zumindest hätte er es getan, wenn sie nicht ausgewichen wäre. Blitzschnell klatschte sie ihm ihre Handflächen auf die Ohren. Das Brecheisen flog quer durch den Raum.
Noch wankend vor Ohrenschmerzen zog Varney ein Messer aus seinem Stiefel. Was danach passierte, wußte er nicht so genau: Nur daß die Welt plötzlich Kopf stand, und dann lag er mit dem Gesicht auf der Erde, Blut kam ihm aus den Ohren, jemand hielt ihm sein eigenes Messer an die Kehle, und der Marquis de Carabas sagte:
»Genug!«
Die Frau sah auf, ohne das Messer von Varneys Kehle zu nehmen. »Und?« fragte sie.
»Sehr eindrucksvoll«, sagte der Marquis.
Door nickte.
Richard war wie vom Donner gerührt: Ihm war, als hätte er gerade einen Cocktail aus Emma Peel, Bruce Lee und einem besonders gefährlichen Tornado erlebt, verfeinert mit einem großzügigen Schuß aus einem Naturfilm, den er mal gesehen hatte, in dem ein Mungo eine Königskobra tötete. Genauso bewegte sie sich. Genauso hatte sie gekämpft.
Die Frau blickte auf Varney hinab. »Danke, Mister Varney«, sagte sie höflich. »Ich fürchte, wir werden Ihre Dienste doch nicht benötigen.«
Sie stieg von ihm herunter und steckte sein Messer in ihren Gürtel.
»Wie heißen Sie eigentlich?« fragte der Marquis.
»Ich heiße Hunter«, erwiderte sie.
Niemand sagte etwas. Dann fragte Door zögernd: »Die Hunter?«
»Richtig«, sagte Hunter, und sie wischte den Bodenstaub von ihren Lederleggings. »Ich bin wieder da.«
Von irgendwoher ertönte eine Glocke, zweimal, ein tiefes, dröhnendes Geräusch, das Richards Zähne vibrieren ließ. »Fünf Minuten«, murmelte der Marquis. Dann sagte er zu den Umstehenden: »Ich glaube, wir haben unseren Leibwächter gefunden. Ich danke Ihnen allen. Mehr gibt es hier nicht zu sehen.«
Hunter ging hinüber zu Door und musterte sie von oben bis unten.
»Können Sie verhindern, daß ich umgebracht werde?« fragte Door.
Hunter deutete mit dem Kopf auf Richard. »Sein Leben habe ich heute schon dreimal gerettet, auf dem Weg über die Brücke und zum Markt.« Varney, der sich mühsam wieder aufgerappelt hatte, hob das Brecheisen mit seinen Gedanken hoch. Der Marquis sah zu, und er sagte nichts.
Der Geist eines Lächelns umspielte Doors Lippen. »Wie lustig«, sagte sie. »Richard dachte, Sie wären eine – «
Hunter erfuhr nicht mehr, war Richard von ihr dachte. Das Eisen sauste auf ihren Kopf zu. Sie streckte einfach den Arm aus und fing es auf: Mit einem befriedigend dumpfen Geräusch landete es in ihrer Hand.
Sie ging zu Varney hinüber.
»Gehört das Ihnen?« fragte sie.
Er bleckte die Zähne, gelb und schwarz und braun.
»Im Moment«, sagte Hunter, »gilt der Marktfrieden. Aber wenn Sie so etwas noch einmal versuchen, ist mir der Waffenstillstand gleichgültig, und ich breche Ihnen beide Arme ab und zwinge Sie, sie zwischen den Zähnen nach Hause zu tragen. Und jetzt«, fuhr sie fort und verdrehte ihm dabei das Handgelenk hinterm Rücken, »sagen Sie schön Entschuldigung.«
»Au«, sagte Varney.
»Ja?« fragte sie aufmunternd.
Er spuckte es aus, als würde er sonst daran ersticken. »Entschuldigung.«
Sie ließ ihn los.
Varney machte sich aus dem Staub. Angsterfüllt und wütend, das Gesicht die ganze Zeit Hunter zugewandt, wich er zurück. Und als er die Tür zur Lebensmittelabteilung erreicht hatte, hielt er inne und brüllte: »Du bist tot! Verdammte Scheiße, du bist tot!«, und seine Stimme war den Tränen nahe.
Dann drehte er sich um, und er rannte hinaus. »Blutiger Laie«, seufzte Hunter.
Sie gingen den gleichen Weg zurück, den Richard gekommen war.
Die Glocke schlug jetzt tief und pausenlos. Sie stand neben dem Harrods-Gourmet-Weingummistand und wurde von einem großen schwarzen Mann geläutet, der die schwarze Tracht eines Dominikanermönchs trug.
So eindrucksvoll der Markt auch anzuschauen gewesen war – es war doch in vielerlei Hinsicht noch eindrucksvoller zuzusehen, mit welchem Tempo er zerlegt, abgebaut und weggeräumt wurde. Jedes Anzeichen dafür, daß er je stattgefunden hatte, verschwand: Stände wurden auseinandermontiert, auf Rücken geladen, weggeschleppt.