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Hunter marschierte voran. Door ging in der Mitte. Der Marquis de Carabas folgte als letzter. Keiner von ihnen hatte etwas gesagt, seit sie Richard vor einer halben Stunde verlassen hatten.

Door blieb plötzlich stehen. »Das können wir nicht tun«, erklärte sie. »Wir können ihn nicht einfach dort zurücklassen. «

»Natürlich können wir das«, sagte der Marquis. »Wir haben es bereits getan.«

Sie schüttelte den Kopf. Seit sie Richard bei Harrods rücklings unter Ruislip am Boden liegen sehen hatte, hatte sie ein schlechtes Gewissen und kam sich dumm vor. Jetzt reichte es ihr.

»Seien Sie nicht albern«, sagte der Marquis.

»Er hat mir das Leben gerettet«, erklärte sie ihm. »Er hätte mich auf der Straße liegenlassen können. Aber das hat er nicht getan.«

Der Marquis zog eine Augenbraue hoch: gleichgültig, distanziert, durch und durch sarkastisch. »Meine liebe junge Lady«, sagte er. »Wir werden auf diese Expedition keine Passagiere mitnehmen.«

»Hören Sie auf, mich zu bevormunden, de Carabas«, sagte Door. Sie klang müde. »Ich glaube, ich kann allein entscheiden, wer mit uns kommt. Sie arbeiten doch für mich, nicht wahr? Oder ist es etwa umgekehrt?«

Er starrte sie an, kalt und wütend. »Er kommt nicht mit«, stellte er kategorisch fest. »Außerdem ist er wahrscheinlich sowieso schon tot.«

Richard war nicht tot. Er saß im Dunkeln auf dem Seitenvorsprung eines Siels und fragte sich, was er tun sollte, fragte sich, wie sehr er den Boden noch unter den Füßen verlieren konnte.

Sein bisheriges Leben, fand er, hatte ihn perfekt auf einen Job im Wertpapiergeschäft vorbereitet, aufs Einkaufen im Supermarkt, aufs samstagnachmittägliche Fernsehfußballgucken und darauf, eine Heizung anzustellen, wenn ihm kalt war. Überhaupt nicht vorbereitet hatte es ihn jedoch auf ein Leben als Unperson auf den Dächern und in der Kanalisation Londons, ein Leben in Kälte, Nässe und Finsternis.

Ein Licht flackerte. Schritte näherten sich ihm. Wenn, beschloß er, das eine Horde von Mördern, Kannibalen oder Monstern sein sollte, würde er keinen Widerstand leisten. Sollten sie doch all dem ein Ende machen; er hatte genug. Er starrte ins Dunkel hinab, dorthin, wo er seine Füße vermutete. Die Schritte kamen näher.

»Richard?« Das war Doors Stimme.

Er zuckte zusammen. Dann bemühte er sich, sie zu ignorieren. Alles nur deinetwegen, dachte er …

»Richard?«

Er sah nicht auf. »Was?« fragte er.

»Hör zu«, sagte sie. »Schließlich bist du nur meinetwegen in dieser dummen Situation. Ich glaube zwar nicht, daß du bei uns eher in Sicherheit bist. Aber. Na gut.« Sie zuckte mit den Schultern. Ein tiefer Atemzug. »Es tut mir leid. Kommst du mit?«

»Ich hab’ gerade nichts anderes vor«, erklärte er mit einer gespielten Gleichgültigkeit, die an Hysterie grenzte. »Warum nicht?«

Sie umarmte ihn fest.

»Und wir werden versuchen, dich wieder zurückzubringen«, sagte sie. »Versprochen. Wenn wir erst gefunden haben, wonach ich suche.«

Sie gingen den Tunnel entlang. Richard sah Hunter und den Marquis an der Mündung auf sie warten. Der Marquis sah aus, als hätte man ihn gezwungen, eine ausgepreßte Zitrone zu schlucken. »Was suchst du denn?« fragte Richard, schon etwas munterer.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte sie ernst. »Im Moment suchen wir einen Engel namens Islington.«

Richard begann zu lachen. Er konnte nichts dagegen tun. Teilweise war es Hysterie, gewiß, aber auch die Erschöpfung eines Menschen, der es irgendwie fertiggebracht hatte, ohne ein vernünftiges Frühstück im Bauch ein paar Dutzend unmögliche Dinge zu glauben. Sein Gelächter hallte in den Tunneln wider.

»Einen Engel?« fragte er hilflos kichernd. »Namens Islington? «

»Wir haben noch einen weiten Weg vor uns«, sagte Door.

Und Richard schüttelte den Kopf und fühlte sich ausgelaugt und leer und zerschlagen.

»Ein Engel«, flüsterte er in die Tunnel und die Finsternis hinein. »Ein Engel.«

Überall im Großen Saal waren Kerzen. Neben den Eisenpfeilern, die das Dach trugen, standen Kerzen. Bei dem Wasserfall, der an einer Wand hinunterfloß, in ein kleines Felsbecken darunter, harrten Kerzen. Zu beiden Seiten der Felswand häuften sich Kerzen. Auf dem Boden kauerten Kerzen. Auf den Kerzenhaltern neben der riesigen Tür zwischen zwei dunklen Eisenpfeilern steckten Kerzen. Die Tür bestand aus poliertem schwarzem Feuerstein, eingelassen in Silber, das im Lauf der Jahrhunderte ebenfalls fast schwarz angelaufen war.

Die Kerzen brannten nicht, doch als er an ihnen vorbeiging, flackerten sie auf. Keine Hand berührte sie; keine Flamme streifte ihren Docht. Sein Gewand war einfach und weiß; oder mehr als weiß. Eine Farbe, vielmehr ein Fehlen aller Farben, von bestürzender Helligkeit. Seine Füße waren nackt auf dem kalten Felsboden des Großen Saals. Sein Gesicht war blaß und weise, und sanft, und vielleicht ein wenig einsam.

Er war sehr schön.

Bald brannte jede Kerze im Saal.

Er blieb vor dem Felsbecken stehen; kniete daneben nieder, tauchte die hohlen Hände in das klare Wasser, hob sie wieder und trank. Das Wasser war kalt, aber außerordentlich rein. Als er fertig war, schloß er einen Moment lang die Augen, wie zu einem Dankgebet.

Dann stand er auf und ging davon, zurück durch die Halle, auf dem gleichen Weg, den er gekommen war; und die Kerzen verloschen, als er an ihnen vorbeiging, wie sie es seit Zehntausenden von Jahren taten.

Er hatte keine Flügel, und dennoch war er unverkennbar ein Engel. Islington verließ den Großen Saal, und die letzte Kerze verlosch, und die Finsternis kehrte zurück.

Kapitel Sechs

Richard schrieb seinen Tagebucheintrag im Kopf.

Liebes Tagebuch, begann er. Am Freitag hatte ich einen Job, eine Verlobte, ein Zuhause und ein Leben, das Sinn machte. (Na ja, soviel Sinn, wie ein Leben eben macht.) Dann fand ich ein verletztes Mädchen, das blutend auf der Straße lag, und wollte ein guter Samariter sein. Jetzt habe ich keine Verlobte, kein Zuhause, keinen Job mehr, und ich laufe gut hundert Meter unter den Straßen Londons herum, mit der voraussichtlichen Lebenserwartung einer selbstmordgefährdeten Eintagsfliege.

»Hier entlang«, sagte der Marquis.

»Sehen diese Tunnel nicht alle gleich aus?« fragte Richard und stellte seinen Tagebucheintrag erst einmal zurück. »Woher weiß man, welcher welcher ist?«

»Das weiß man nicht«, sagte der Marquis. »Wir haben uns hoffnungslos verirrt. Wir werden nie wieder auftauchen. In ein paar Tagen werden wir uns gegenseitig umbringen, um etwas zu essen zu haben.«

»Wirklich?«

»Nein.«

Richard fuhr fort, in sein geistiges Tagebuch zu schreiben.

Es gibt Hunderte von Menschen in diesem anderen London. Vielleicht Tausende. Menschen, die von hier stammen, oder Menschen, die durchs Netz gefallen sind. Ich bin mit einem Mädchen namens Door, ihrer Leibwächterin und ihrem geistesgestörten Großwesir unterwegs. Letzte Nacht haben wir in einem kleinen Tunnel geschlafen, der, wie Door sagte, früher zur Regency-Kanalisation gehört hat. Die Leibwächterin war wach, als ich eingeschlafen bin, und sie war wach, als sie mich geweckt haben. Ich glaube nicht, daß sie jemals schläft. Zum Frühstück gab es Topfkuchen; der Marquis hatte ein großes Stück in der Tasche. Wieso hat jemand ein großes Stück Topfkuchen in der Tasche? Meine Schuhe sind fast völlig getrocknet, während ich geschlafen habe.

Ich will nach Hause.

Dann unterstrich er im Geiste den letzten Satz dreimal, schrieb ihn in riesigen Buchstaben mit roter Tinte noch einmal und kreiste ihn ein, bevor er auf seinem imaginären Seitenrand mehrere Ausrufezeichen danebensetzte.