Wenigstens war der Tunnel, den sie jetzt entlanggingen, trocken. Es war ein High-Tech-Tunneclass="underline" lauter silbrige Rohre und weiße Wände.
Der Marquis und Door schritten zusammen voraus. Richard blieb meistens ein paar Schritte hinter ihnen. Hunter war mal hier, mal dort. Manchmal ging sie hinter ihnen, manchmal auf der linken oder rechten Seite, oft verschmolz sie ein kleines Stück vor ihnen mit den Schatten. Sie bewegte sich völlig geräuschlos, was Richard ziemlich beunruhigend fand.
Vor ihnen war ein Lichtstreifen zu sehen.
»Na also«, sagte der Marquis. »U-Bahn-Haltestelle Bank. Guter Ort, um mit der Suche zu beginnen.«
»Sie sind ja nicht ganz dicht«, sagte Richard. Das war nicht für die Ohren der anderen bestimmt, doch egal, mit welch sotto voce man sprach, in dieser Finsternis war alles laut und deutlich zu hören.
»Tatsächlich?« sagte der Marquis.
Der Boden begann zu grollen: eine U-Bahn, irgendwo ganz in der Nähe.
»Richard, laß gut sein«, sagte Door.
Doch da kam es schon aus seinem Mund: »Na ja«, sagte er. »Ihr seid doch wirklich albern. Es gibt keine Engel.«
Der Marquis nickte und sagte: »Ah. Ja. Jetzt verstehe ich Sie. Es gibt keine Engel. Ebenso, wie es kein Unter-London gibt, keine Rattensprecher und keine Schäfer in Shepherd’s Bush.«
»Es gibt keine Schäfer in Shepherd’s Bush«, stellte Richard kategorisch fest.
»Doch«, sagte Hunter aus der Dunkelheit gleich neben Richards Ohr. »Beten Sie darum, daß sie Ihnen nie begegnen. « Es klang so, als sei das ihr voller Ernst.
»Also«, sagte Richard. »Ich glaube trotzdem nicht, daß hier unten massenweise Engel herumlaufen.«
»Tun sie auch nicht«, erklärte der Marquis. »Nur einer. « Sie hatten das Ende des Tunnels erreicht. Vor ihnen befand sich eine verschlossene Tür. Der Marquis trat zurück. »Mylady?« sagte er zu Door.
Sie legte einen Moment lang ihre Hand darauf. Die Tür öffnete sich lautlos.
»Vielleicht«, beharrte Richard, »reden wir von unterschiedlichen Dingen. Wenn ich Engel sage, meine ich Flügel, Heiligenscheine, Trompeten, Friede-auf-Erden-undden-Menschen-ein-Wohlgefallen. «
»Stimmt«, sagte Door. »Genau. So sind Engel.«
Sie gingen durch die Tür.
Richard schloß unwillkürlich die Augen. So viel Licht: Es durchbohrte seinen Kopf wie eine Migräne. Als seine Augen sich an die strahlende Helle gewöhnt hatten, stellte Richard fest, daß er sich in dem langen Fußgängertunnel befand, der die Haltestellen Monument und Bank miteinander verbindet. Pendler liefen durch die Tunnel, und keiner würdigte die vier auch nur eines Blickes.
Das aufdringliche Wimmern eines Saxophons hallte durch den Tunneclass="underline" ›I’ll Never Fall In Love Again‹ von Burt Bacharach und Hal David, halbwegs gekonnt gespielt.
Richard kämpfte gegen den Drang an, mitzusummen. Sie bewegten sich auf die Haltestelle Bank zu.
»Wen suchen wir noch mal?« fragte er, mehr oder weniger unschuldig. »Den Engel Gabriel? Raphael? Michael?«
Sie passierten einen U-Bahn-Plan. Der Marquis tippte auf die Station Angeclass="underline" »Islington.«
Richard wechselte das Thema. »Wissen Sie, als ich vor ein paar Tagen in eine U-Bahn einsteigen wollte, hat sie mich nicht reingelassen.«
»Sie müssen denen nur klarmachen, wer das Sagen hat, das ist alles«, sagte Hunter hinter ihm sanft.
Door kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Diese hier wird uns reinlassen«, sagte sie. »Wenn wir sie finden.«
What do you get if you fall in love?
Get enough germs to catch pneumonia.
And after you do, she’ll never phone ya …
Sie gingen ein paar Stufen hinunter und bogen um eine Ecke.
Der Saxophonspieler hatte seinen Mantel auf dem Tunnelboden vor sich ausgebreitet. Auf dem Mantel lagen ein paar Münzen, die aussahen, als hätte er sie selbst dort hingelegt, um die Passanten davon zu überzeugen, daß jeder ihm etwas gab.
Niemand fiel darauf herein.
Der Saxophonspieler war außerordentlich groß; er hatte schulterlanges dunkles Haar und einen langen, gegabelten Bart, der tiefliegende Augen und eine hervorstechende Nase einrahmte. Er trug ein zerfetztes T-Shirt und ölfleckige Blue Jeans.
Als die Reisenden bei ihm ankamen, hörte er auf zu spielen, schüttelte den Speichel aus dem Mundstück, steckte es wieder auf und fing an, den alten Julie-London-Song ›Cry Me A River‹ zu spielen.
Now, you say you’re sorry …
Richard bemerkte zu seiner Überraschung, daß der Mann sie sehen konnte – und daß er alles daransetzte, so zu tun, als sähe er sie nicht. Der Marquis blieb vor ihm stehen. Das Wimmern des Saxophons erstarb mit nervösen Zuckungen. Ein kaltes Grinsen ließ die Zähne des Marquis aufblitzen.
»Sie sind Lear, nicht wahr?« fragte er.
Der Mann nickte argwöhnisch. Seine Finger streichelten die Klappen seines Saxophons.
»Wir suchen Earl’s Court«, fuhr der Marquis fort. »Haben Sie vielleicht einen Fahrplan dabei?«
Lear befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze. »Wäre möglich. Wenn ja, was spränge für mich dabei raus?«
Der Marquis steckte die Hände tief in seine Manteltaschen. Dann lächelte er wie eine Katze, der man gerade den Schlüssel eines Heims für verwahrloste, aber fette Kanarienvögel anvertraut hatte.
»Es heißt«, sagte er träge, als würde er nur die Zeit totschlagen, »daß Blaise, Merlins Meister, einmal eine Melodie geschrieben hat, die so berückend ist, daß sie jedem, der sie hört, das Kleingeld aus den Taschen zaubert.«
Lears Augen verengten sich. »Das wäre mehr wert als nur einen Fahrplan«, sagte er. »Vorausgesetzt, diese Melodie ist wirklich in Ihrem Besitz.«
Der Marquis tat sehr überzeugend so, als würde ihm gerade klar: Himmel, da hat er recht! »Tja«, sagte er großmütig, »ich schätze, in dem Fall würden Sie mir etwas schulden, nicht wahr?«
Lear nickte, langsam, widerstrebend. Er faßte in seine Gesäßtasche und zog einen vielfach gefalteten Papierfetzen hervor und hielt ihn hoch.
Der Marquis griff danach. Lear zog die Hand weg. »Lassen Sie mich erst die Melodie hören, Sie alter Gauner«, sagte er. »Und ich hoffe für Sie, daß sie funktioniert. «
Der Marquis zog eine Augenbraue hoch. Seine Hand schnellte in eine der Innentaschen seines Mantels; als er sie wieder herauszog, waren eine Blechflöte und eine kleine Kristallkugel darin. Er schaute die Kristallkugel an, machte »hmmm«, als wolle er sagen: »Ach, da ist die gelandet«, und steckte sie wieder weg. Dann krümmte er die Finger, setzte die Flöte an die Lippen und begann zu spielen.
Es war eine seltsame, übermütige, Purzelbäume schlagende Weise. Sie gab Richard das Gefühl, er sei wieder dreizehn Jahre alt und hörte in der Schulpause die Top Twenty im Kofferradio seines besten Freundes, damals, als Popmusik noch die Rolle spielte, die sie nur in der Teenagerzeit spielen kann: Diese Melodie hatte alles, was er jemals in einem Musikstück hören wollte …
Eine Handvoll Münzen klirrte auf Lears Mantel. Der Marquis ließ die Flöte sinken.
»Dann schulde ich Ihnen wohl etwas, Sie alter Schurke«, sagte Lear.
»Ja. Das tun Sie.« Der Marquis nahm Lear den Zettel – den Fahrplan – aus der Hand, überflog ihn und nickte. »Und noch ein guter Rat: Übertreiben Sie es nicht. Sie ist sehr ergiebig.«
Und die vier gingen fort, den langen Korridor entlang, an den Wänden lauter Plakate, die für Filme und Unterwäsche warben, und hier und da ein offiziell aussehender Zettel, der Straßenmusikanten verscheuchen sollte, und sie lauschten dem Schluchzen des Saxophons und dem Geräusch von Geld, das auf dem Mantel landete.