»Na, wenigstens eine Ratte, die nicht mehr Mäuschen spielen wird«, sagte Mr. Croup. Er lachte leise über seinen eigenen Witz.
Mr. Vandemar sagte nichts.
»Ratte. Mäuschen. Kapiert?«
Mr. Vandemar zog die Ratte von der Klinge und begann nachdenklich daran zu kauen.
Mr. Croup schlug sie ihm aus den Händen. »Lassen Sie das«, sagte er. Mr. Vandemar steckte etwas verdrossen sein Messer weg.
»Kopf hoch!« zischte Mr. Croup ermutigend. »Das wird nicht die letzte Ratte gewesen sein. Und jetzt weiter! Wir haben zu tun. Leuten zu schaden.«
Drei Jahre in London hatten zwar Richard nicht verändert, aber den Eindruck, den er von der Stadt hatte.
Gleich nach seiner Ankunft war London ihm riesig erschienen, seltsam, zutiefst unbegreiflich. Allein der U-Bahn-Plan verlieh der Stadt einen Anschein von Ordnung.
Nach und nach war ihm klargeworden, daß der U-Bahn-Plan eine praktische Fiktion war, die einem zwar das Leben erleichterte, jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit der Realität aufwies: Wie die Mitgliedschaft in einer politischen Partei, hatte er einmal stolz gedacht und sich dann, nachdem er auf einer Party einem Häuflein perplexer fremder Leute die Ähnlichkeit zwischen dem U-Bahn-Plan und der Politik zu erklären versucht hatte, entschlossen, politische Kommentare in Zukunft anderen zu überlassen.
Mit der Zeit stellte er fest, daß London ihm selbstverständlich geworden war; nach einer Weile begann er stolz darauf zu sein, daß er keine der Londoner Sehenswürdigkeiten besichtigt hatte (außer dem Tower of London, als seine Tante Maud für ein Wochenende in der Stadt war und Richard widerwillig den Fremdenführer für sie spielen mußte).
Mit Jessica änderte sich all das. Zu seinem Erstaunen begleitete Richard sie an ansonsten vernünftigen Wochenenden an Orte wie die National Gallery und die Tate, wo er lernte, daß einem die Füße wehtun, wenn man zu lange in Galerien herumläuft, daß die großen Kunstschätze der Welt nach einer Weile alle miteinander verschwimmen und daß es beinahe die Grenzen des menschlichen Vorstellungsvermögens überschreitet, wieviel in einer Museumscafeteria ein Stück Kuchen und eine Tasse Tee kosten.
»Hier, dein Tee und dein Eclair«, sagte er. »Es wäre billiger gewesen, einen von diesen Tintorettos zu kaufen.«
»Übertreib nicht«, erwiderte Jessica munter. »Außerdem gibt es in der Tate keine Tintorettos.«
»Ich hätte doch so ein Stück Kirschkuchen nehmen sollen«, meinte Richard. »Dann könnten sie sich jetzt noch einen van Gogh leisten.«
»Nein«, sagte Jessica völlig richtig, »könnten sie nicht.«
Richard hatte Jessica in Frankreich kennengelernt, auf einem Wochenendtrip nach Paris vor zwei Jahren; ausgerechnet im Louvre, wo er auf der Suche nach seinen Kollegen, die die Reise organisiert hatten, rückwärts in Jessica hineingelaufen war, die gerade einen extrem großen, historisch bedeutenden Diamanten betrachtete. Er versuchte, sich auf Französisch bei ihr zu entschuldigen, gab auf und begann, sich auf Englisch zu entschuldigen, und dann versuchte er, sich auf Französisch dafür zu entschuldigen, daß er sich auf Englisch entschuldigen mußte, bis er merkte, daß Jessica so englisch war, wie man nur irgend sein konnte, und dann ließ sie sich von ihm als Entschuldigung ein teures französisches Sandwich kaufen und einen moussierenden Apfelsaft zu einem horrenden Preis, und, tja, so fing eigentlich alles an.
Danach war es ihm nicht mehr gelungen, Jessica davon zu überzeugen, daß er nicht der Typ war, der in Kunstgalerien ging.
Richard war von Jessica, die schön war und oft recht witzig und es mit Sicherheit zu etwas bringen würde, zutiefst beeindruckt. Und Jessica sah in Richard ein enormes Potential, das ihn, wenn es von der richtigen Frau entsprechend genutzt wurde, zum perfekten Ehe-Accessoire machen würde. Wenn er nur ein bißchen zielstrebiger wäre, pflegte sie vor sich hin zu murmeln, und so schenkte sie ihm Bücher mit Titeln wie Dress for Success und Hundertfünfundzwanzig Tips erfolgreicher Männer und andere über die Kunst, ein Geschäft wie einen militärischen Feldzug zu leiten, und Richard bedankte sich immer und nahm sich immer vor, sie zu lesen. Sie kaufte ihm die Kleidung, die er ihrer Meinung nach tragen sollte – und er trug sie, unter der Woche; und eines Tages, als sie den Zeitpunkt für gekommen hielt, sagte sie ihm, sie würden jetzt einen Verlobungsring kaufen gehen.
»Warum bist du mit ihr zusammen?« fragte Garry aus der Buchhaltung achtzehn Monate später. »Sie ist doch schrecklich.«
Richard schüttelte den Kopf. »Wenn man sie erst mal richtig kennenlernt, ist sie wirklich nett.«
Garry stellte den Troll, den er von Richards Schreibtisch genommen hatte, wieder hin. »Wundert mich bloß, daß sie dich hiermit noch spielen läßt.«
»Das Thema ist nie zur Sprache gekommen«, sagte Richard. Das Thema war sehr wohl zur Sprache gekommen. Jessica hatte sich jedoch eingeredet, Richards Trollsammlung sei ein Zeichen liebenswürdiger Exzentrik, vergleichbar mit Mr. Stocktons Engelsammlung. Jessica war gerade dabei, eine Wanderausstellung von Mr. Stocktons Engelsammlung zu organisieren, und sie war zu dem Schluß gekommen, daß große Männer immer irgend etwas sammeln.
Eigentlich sammelte Richard gar keine Trolle. In Wirklichkeit hatte er bloß in einem schwachen und ziemlich erfolglosen Versuch, seiner Arbeitswelt ein wenig Persönlichkeit einzuhauchen, an strategisch wichtigen Punkten seines Schreibtischs Plastiktrolle verteilt. Außerdem stand da ein Foto von Jessica. Heute klebte ein gelber Post-it-Zettel daran.
Es war Freitag nachmittag.
Richard hatte festgestellt, daß Ereignisse Feiglinge waren : Sie traten nicht einzeln auf, sondern in Rudeln, und stürzten alle auf einmal über ihn herein. Zum Beispiel an diesem Freitag. Es war, wie ihm Jessica im letzten Monat mindestens ein Dutzend Mal erklärt hatte, der wichtigste Tag seines Lebens. Natürlich nicht der wichtigste Tag ihres Lebens. Das würde irgendein Tag in der Zukunft sein, wenn sie, woran Richard nicht zweifelte, Premierministerin, Königin oder Gott würde. Doch es war ohne Frage der wichtigste Tag seines Lebens. Und so war es Pech, daß Richard ihn, trotz des Post-it-Zettels zu Hause an seiner Kühlschranktür und trotz des anderen Post-it-Zettels an dem Foto von Jessica auf seinem Schreibtisch, total vergessen hatte.
Außerdem hatte er den Kopf mit dem längst überfälligen Wandsworth-Bericht voll. Richard prüfte eine weitere Zahlenreihe; dann bemerkte er, daß Seite siebzehn verschwunden war, und ließ sie noch mal ausdrucken; kontrollierte noch eine Seite, und er wußte, wenn man ihn nur in Ruhe arbeiten ließe … wenn, Wunder über Wunder, das Telefon nicht klingelte …
Es klingelte. Er schaltete auf Lautsprecher.
»Hallo? Richard? Der Chef möchte wissen, wann er den Bericht bekommt.«
Richard schaute auf seine Armbanduhr. »In fünf Minuten, Sylvia. Ich bin fast fertig. Es fehlt nur noch die Gewinn-und-Verlust-Prognose. «
»Danke, Dick. Ich hol’s mir gleich ab.«
Sylvia war, wie sie gern erklärte, »die persönliche Assistentin des Geschäftsführers«, und sie verbreitete eine Atmosphäre knackig frischer Effizienz.
Er drückte noch einmal auf den Knopf, und das Telefon klingelte sofort wieder.
»Richard«, sagte der Lautsprecher mit Jessicas Stimme, »hier ist Jessica. Du hast es doch nicht vergessen, oder?«
»Vergessen?« Er versuchte sich zu erinnern, was er vergessen haben könnte. Hilfesuchend schaute er Jessicas Foto an und fand die benötigte Hilfe in Form eines gelben Post-it-Zettels, der an ihrer Stirn klebte. »Richard? Nimm den Hörer ab.« Er nahm den Hörer ab und las dabei den Post-it-Zettel. »Tut mir leid, Jess. Nein, ich hab’s nicht vergessen. Heute abend um sieben, im Ma Maison Italiano. Treffen wir uns da?«