Der Marquis führte sie zu einem Bahnsteig der Central Line. Richard ging zum Bahnsteigrand und sah hinab. Er fragte sich, wie immer, welche Schiene wohl unter Strom stand; und dann ertappte er sich dabei, wie er unwillkürlich eine winzige graue Maus anlächelte, die mutig über die Gleise pirschte, auf der stillen Suche nach weggeworfenen Sandwiches und heruntergefallenen Kartoffelchips.
»Treten Sie zurück«, sagte Hunter beschwörend zu Richard. »Stellen Sie sich dort hinten hin. An die Wand.«
»Was?« fragte Richard.
»Ich sagte«, sagte Hunter, »treten Sie – «
Und da brach es plötzlich über den Bahnsteig herein. Es war durchscheinend, traumgleich, ein geisterhaftes Etwas, von der Farbe schwarzen Qualms; wie Seide unter Wasser quoll es hoch, und mit einer erstaunlich schnellen Bewegung, obwohl es immer noch den Anschein hatte, als schwebte es beinahe in Zeitlupe dahin, wickelte es sich fest um Richards Knöchel.
Es brannte, sogar durch den Stoff seiner Levi’s hindurch. Das Etwas zog ihn an den Rand des Bahnsteigs, und er geriet ins Wanken.
Er nahm ganz entfernt wahr, daß Hunter ihren Stock in der Hand hatte und damit immer wieder fest auf den Fangarm einschlug.
Weit weg erklang ein kreischendes Geräusch, dünn und unbeseelt, wie von einem schwachsinnigen Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte.
Die Qualmtentakel ließ Richards Knöchel los und glitt zurück über den Bahnsteigrand, und dann war sie fort.
Hunter packte Richard am Kragen und riß ihn zurück an die Wand.
Dort sackte er in sich zusammen. Da, wo das Etwas ihn berührt hatte, hatte es die Farbe aus seinen Jeans gesogen, so daß sie aussahen wie schlecht gebatikt. Er zog das Hosenbein hoch: winzige blaurote Striemen bildeten sich auf der Haut seines Knöchels und seiner Wade.
»Was …«, versuchte er zu sagen, doch es kam nichts. Er schluckte. Probierte es noch mal. »Was war das?«
Hunter sah zu ihm herunter. Ihr Gesicht sah aus wie aus braunem Holz geschnitzt. »Ich glaube, es hat keinen Namen«, sagte sie. »Die leben zwischen den Bahnsteigen und den Gleisen. Ich habe Sie gewarnt.«
»Sowas … hab’ ich noch nie gesehen.«
»Bisher gehörten Sie auch noch nicht zur Unterseite«, sagte Hunter. »Warten Sie einfach an der Wand. Das ist sicherer.« Der Marquis sah auf seine große goldene Taschenuhr. Er steckte sie wieder in seine Westentasche, schaute auf den Zettel, den Lear ihm gegeben hatte, und nickte zufrieden. »Wir haben Glück«, verkündete er. »Der Earl’s-Court-Zug müßte hier in etwa einer halben Stunde durchkommen.«
»Earl’s Court liegt nicht an der Central Line«, erklärte Richard.
Der Marquis starrte Richard mit unverhohlener Belustigung an. »Sie sind wirklich von einer erfrischenden Intelligenz, junger Mann«, sagte er. »Es geht doch nichts über totale Ahnungslosigkeit, nicht wahr?«
Der Wind setzte ein. Eine U-Bahn hielt an der Haltestelle. Menschen stiegen aus, und andere Menschen stiegen ein, mit ihren alltäglichen Verrichtungen beschäftigt, und Richard beobachtete sie voll Neid.
»Zurückbleiben, bitte«, deklamierte eine Tonbandstimme. »Treten Sie von den Türen zurück. Zurückbleiben, bitte.«
Door warf Richard einen Blick zu. Dann, besorgt über das, was sie da sah, ging sie zu ihm und nahm seine Hand. Er war blaß, und sein Atem ging flach und schnell.
»Zurückbleiben, bitte«, dröhnte die Tonbandstimme wieder.
»Mir fehlt nichts«, log Richard tapfer niemand Speziellen an.
Der Innenhof des Krankenhauses, in dem Mr. Croup und Mr. Vandemar wohnten, war ein naßkalter und freudloser Ort. Struppiges Gras wuchs durch die zurückgelassenen Schreibtische, Gummireifen und Büromöbel hindurch. Alles in allem entstand der Eindruck, hier hätten vor zehn Jahren (vielleicht aus Langeweile, vielleicht aus Frust, vielleicht sogar als Grundsatzerklärung oder als Kunstperformance) ein paar Leute alles, was sich in ihren Büros befand, oben aus dem Fenster geworfen und dem Verfall überlassen.
Es fanden sich auch Glassplitter dort. Glassplitter im Überfluß. Außerdem mehrere Matratzen. Aus irgendeinem nur schwer erklärlichen Grund waren ein paar dieser Matratzen irgendwann einmal in Brand gesetzt worden. Niemand wußte, weshalb; niemanden kümmerte es. Gras wuchs durch die Sprungfedern empor.
Um den Zierbrunnen in der Mitte des Hofes herum, der schon seit langem weder eine besondere Zierde noch ein Brunnen war, hatte sich ein richtiges Ökosystem entwickelt. Ein zerborstenes, undichtes Wasserrohr in der Nähe hatte ihn mit Hilfe von ein wenig Regenwasser in einen Brutplatz für kleine Frösche verwandelt, die lustig umherplumpsten und sich der Abwesenheit aller flügellosen natürlichen Feinde erfreuten. Krähen, Amseln und sogar die eine oder andere Möwe betrachteten den Ort wiederum als katzenfreien Feinkostladen für Froschspezialitäten.
Nacktschnecken krochen träge unter den Sprungfedern der verbrannten Matratzen umher; Schnirkelschnecken hinterließen Schleimspuren auf den Glassplittern. Große schwarze Käfer huschten emsig über die kaputten grauen Plastiktelefone und die verstümmelten Sindy-Puppen.
Mr. Croup und Mr. Vandemar waren hinaufgestiegen, weil sie eine Luftveränderung brauchten. Langsam schritten sie den Rand des Mittelhofes ab, Glassplitter unter ihren Füßen zermalmend. In ihren verschlissenen schwarzen Anzügen sahen sie aus wie Schatten.
Mr. Croup war von kaltem Zorn gepackt. Er ging doppelt so schnell wie Mr. Vandemar, umkreiste ihn fast tänzelnd vor Zorn. Von Zeit zu Zeit warf sich Mr. Croup in offenbar unbezähmbarer Wut gegen die Krankenhausmauer und bearbeitete sie mit Fäusten und Füßen, als wäre sie ein kümmerlicher Ersatz für einen echten Menschen.
Mr. Vandemar hingegen ging einfach nur. Sein Schritt war zu unbeirrbar, zu gleichmäßig und zu unerbittlich, um ihn als Schlendern zu bezeichnen. Der Tod geht wie Mr. Vandemar. Mr. Vandemar beobachtete ungerührt, wie Mr. Croup gegen eine Glasscheibe trat, die an einer Wand lehnte. Sie zerbarst mit einem befriedigenden Klirren.
»Ich, Mister Vandemar«, sagte Mr. Croup, während er den Trümmerhaufen begutachtete, »ich jedenfalls habe jetzt fast die Nase voll. Fast. Diese unentschlossene, vertrödelte, schlafmützige, zimperliche, käsegesichtige Kröte – am liebsten würde ich ihm die Augen aus den Höhlen drücken …«
Mr. Vandemar schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, sagte er. »Er ist unser Chef. Für diesen Auftrag. Wenn wir bezahlt worden sind, können wir uns vielleicht ein bißchen auf eigene Kosten amüsieren.«
Mr. Croup spuckte auf den Boden. »Dieser nichtsnutzige Narr läßt sich auch alles gefallen … Wir sollten die Schlampe abschlachten. Auslöschen, liquidieren, unter die Erde bringen und abschreiben.«
Ein Telefon begann laut zu klingeln. Mr. Croup und Mr. Vandemar schauten sich verwirrt um. Schließlich fand Mr. Vandemar das Telefon, halb unter einem Schotterhaufen oben auf einem Berg wasserfleckiger medizinischer Akten vergraben. Hinten ragten kaputte Drähte heraus. Er hob ab und reichte es Mr. Croup.
»Für Sie«, sagte er.
Mr. Vandemar mochte keine Telefone.
»Mister Croup hier«, sagte Croup. Dann, unterwürfig: »Oh. Sie sind es, Sir …«
Eine Pause.
»Im Moment läuft sie, ganz wie Sie es wünschten, frei wie ein Schmetterling herum. Ich fürchte, Ihre Idee mit dem Leibwächter war ein Schlag ins Abwasser … Varney? Ja, er ist ziemlich tot.«
Eine weitere Pause.
»Sir, ich bekomme langsam gewisse konzeptionelle Probleme mit meiner Rolle und der meines Partners bei all diesem Humbug.«
Es folgte eine dritte Pause, und Mr. Croup wurde bleicher als bleich.
»Unprofessionell?« fragte er milde. »Wir?«
Er ballte seine Hand zu einer Faust, die er ziemlich heftig in eine Backsteinmauer rammte. Seine Stimme war jedoch unverändert, als er sagte: »Sir. Darf ich Sie mit gebührendem Respekt daran erinnern, daß Mister Vandemar und meine Wenigkeit Troja niedergebrannt haben? Wir brachten die Schwarze Pest nach Flandern. Unser letzter Auftrag war es, ein ganzes Kloster in der Toskana des sechzehnten Jahrhunderts zu Tode zu foltern. Wir sind ausgesprochen professionell.«