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Der riesige Mann war in jeder Hinsicht überlebensgroß. Er trug eine Augenklappe über einem Auge, was dazu führte, daß er ein wenig hilflos und aus dem Gleichgewicht geraten aussah, wie ein einäugiger Vogel. In seinem rotgrauen Bart hingen Essensreste, und am unteren Ende seines schäbigen Pelzgewands lugte etwas hervor, das aussah wie eine Schlafanzughose.

Das, dachte Richard völlig richtig, muß der Earl sein.

Der Narr des Earl, ein älterer Mann mit einem verkniffenen Mund und einem angemalten Gesicht, sah aus, als sei er vor hundert Jahren vor einem Leben am Ende der Besetzungslisten der Varietétheater geflohen. Er geleitete den Earl zu einem thronähnlichen geschnitzten Holzsitz, in den sich der Riese ein wenig unsicher niederließ. Der Wolfshund stand auf, trottete durch den ganzen Waggon und ließ sich zu den in Pantoffeln steckenden Füßen des Earl nieder.

Earl’s Court, dachte Richard. Natürlich. Der Hof des Earl. Und dann begann er zu überlegen, ob es wohl im Barons Court einen Baron gab oder einen Raben im Ravenscourt oder …

Der kleine alte Ritter hustete asthmatisch und sagte: »Nun denn, Ihr Leut’. Was ist Euer Begehr?«

Door trat vor. Sie ging sehr aufrecht und wirkte größer und selbstsicherer, als Richard sie bisher gesehen hatte, und sie sagte: »Wir ersuchen um eine Audienz bei Seiner Gnaden, dem Earl.«

Der Earl rief durch den Waggon: »Was hat die Kleine gesagt, Halvard?« Richard fragte sich, ob er wohl schwerhörig sei. Schlurfend drehte Halvard, der ältliche Soldat, sich um und legte eine Hand an den Mund.

»Sie ersuchen um eine Audienz, Euer Gnaden«, brüllte er über das Rattern des Zuges hinweg.

Der Earl schob seine dicke Pelzkappe zur Seite und kratzte sich nachdenklich am Kopf. Unter seiner Kappe wurde er kahl. »Tatsächlich? Eine Audienz. Prächtig, prächtig. Wer ist es denn, Halvard?«

Halvard wandte sich ihnen wieder zu. »Er will wissen, wer Ihr seid. Aber bitte faßt Euch kurz.«

»Ich bin Lady Door«, verkündete Door. »Lord Portico war mein Vater.«

Die Miene des Earl hellte sich auf, als er das hörte; er beugte sich vor und spähte mit seinem gesunden Auge durch den Qualm. »Hat sie gesagt, sie sei Porticos Älteste? « fragte er den Narren.

»Jawohl, Euer Gnaden.«

Der Earl winkte Door zu sich. »Kommt her«, sagte er. »Kommt-kommt-kommt. Laßt mich Euch anschauen.« Sie ging den Waggon entlang und griff beim Gehen, um nicht umzufallen, nach den dicken Seilenden, die von der Decke hingen. Als sie vor dem hölzernen Sessel des Earl stand, knickste sie. Er kratzte sich am Bart und starrte sie an.

»Wir waren alle sehr bestürzt, als wir von Eures Vaters unglücklichem – «, sagte der Earl und unterbrach sich dann und sagte: »Tja, Eure ganze Familie, das war ein – «, und seine Stimme erstarb, und er sagte: »Ihr müßt nämlich wissen, ich hegte die wärmsten Gefühle für ihn, hatte schließlich geschäftlich recht viel mit ihm zu tun … Der gute alte Portico … voller Ideen …« Er hielt inne. Dann tippte er dem Narr auf die Schulter und flüsterte mit seinem sonoren Organ, laut genug, daß es trotz des Zuglärms gut zu hören war: »Geh und mach Witze, Tooley. Verdien dir dein Brot.«

Der Narr torkelte den Gang entlang und schnitt dabei arthritische Grimassen. Vor Richard blieb er stehen.

»Und wer mögt Ihr wohl sein?« fragte er.

»Ich?« sagte Richard. »Ähm. Ich? Mein Name? Ich heiße Richard. Richard Mayhew.«

»Mayhew?« kiekste der Narr, wobei er auf ältliche, ziemlich theatralische Weise Richards schottischen Akzent nachahmte. »Mayhew? Oho! ’s ist kein Mann, ’s ist ein Mondkalb im Kilt!«

Die Höflinge kicherten zurückhaltend.

»Und ich«, erklärte de Carabas dem Narren mit einem blendenden Lächeln, »bin der Marquis de Carabas.«

Der Narr blinzelte.

»De Carabas, der Dieb?« fragte er. »De Carabas, der Leichenräuber? De Carabas, der Verräter?« Er wandte sich zu den umstehenden Höflingen. »Aber das kann nicht de Carabas sein! Wie denn? De Carabas ist schon vor langer Zeit aus dem Umfeld des Earl verbannt worden. Vielleicht ist es statt dessen ein echter Schweinehund.«

Die Höflinge kicherten, diesmal unbehaglich, und ein leises Rauschen nervöser Gespräche setzte ein. Der Earl sagte nichts, doch seine Lippen waren fest zusammengepreßt, und er hatte zu zittern begonnen.

»Ich heiße Hunter«, sagte Hunter zu dem Hofnarren.

Da waren die Höflinge still. Der Narr öffnete den Mund, als ob er etwas sagen wollte, und dann sah er sie an, und dann schloß er seinen Mund wieder.

Der Anflug eines Lächelns umspielte Hunters wohlgeformte Lippen. »Na los«, forderte sie ihn auf. »Sag etwas Lustiges.« Der Narr starrte die abgeknickten Spitzen seiner Schuhe an. Dann murmelte er: »Mein Hund hat keine Nase.«

Der Earl hatte den Marquis de Carabas wie eine langsam brennende Zündschnur angestarrt, mit einem hervorquellenden Auge und weißen Lippen. Offenbar traute er seinen Augen und Ohren nicht. Dann explodierte er: Er sprang auf, ein graubärtiger Vulkan, ein ältlicher Berserker. Sein Kopf streifte das Waggondach. Er zeigte auf den Marquis und brüllte speichelnd: »Das lasse ich mir nicht gefallen, das nicht! Er soll vortreten!«

Halvard drohte dem Marquis mit seinem kümmerlichen Speer, und dieser schlenderte zum Vorderende des Zuges, bis er neben Door vor dem Thron des Earl stand. Ein Knurren entrang sich der Kehle des Wolfshunds.

»Ihr«, sagte der Earl und stach mit einem bebenden Finger in die Luft. »Ich kenne Euch, de Carabas. Ich habe nichts vergessen. Ich bin vielleicht alt, aber ich habe nichts vergessen.«

Der Marquis verneigte sich.

»Darf ich Euer Gnaden erinnern«, sagte er liebenswürdig, »daß wir ein Abkommen hatten? Ich habe die Friedensverhandlungen zwischen Eurem Volk und dem Raven’s Court geführt. Und im Gegenzug willigtet Ihr ein, mir einen kleinen Gefallen zu tun.«

Also gibt es wirklich einen Raven’s Court, dachte Richard. Er fragte sich, wie es da wohl zugehen mochte.

»Einen kleinen Gefallen?« fragte der Earl. Er wurde rot wie eine Tomate. »So nennt Ihr das also? Durch Eure Dummheit hatte ich auf dem Rückzug aus White City den Verlust von einem Dutzend Männer zu beklagen. Ich selbst habe ein Auge verloren.«

»Und wenn es gestattet ist, Euer Ehren«, sagte der Marquis würdevoll, »möchte ich die Gelegenheit nutzen, Euch zu sagen, daß diese Augenklappe Euch vorzüglich steht. Euer Antlitz kommt dadurch erst richtig zur Geltung.«

»Ich habe gelobt … «, wetterte der Earl, und seine Barthaare sträubten sich, »ich habe gelobt … wenn Ihr jemals wieder mein Reich betretet, dann werde ich …«, seine Stimme erstarb. Er schüttelte den Kopf. Fuhr fort. »Es wird mir schon wieder einfallen. Ich vergesse nichts.«

»Er ist also vielleicht nicht allzu erfreut, Sie zu sehen?« flüsterte Door de Carabas zu.

»Na ja, ist er ja auch nicht«, murmelte er zurück.

Door trat noch einmal vor. »Euer Gnaden«, sagte sie laut und deutlich, »de Carabas ist hier als mein Gast und mein Begleiter. Um all der Verbundenheit willen, die zwischen Eurer und meiner Familie geherrscht hat, um der Freundschaft zwischen meinem Vater und – «

»Er hat meine Gastfreundschaft mißbraucht«, dröhnte der Earl. »Ich habe gelobt … wenn er je wieder mein Reich betritt, lasse ich ihn ausweiden und räuchern … wie … wie etwas, das man üblicherweise erst, ähm, ausweidet, und dann, äh, räuchert, ähm …«

»Vielleicht – ein Bückling, Mylord?« schlug der Hofnarr vor. Der Earl zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht von Bedeutung. Wachen, ergreift ihn.«