»Nein?« dröhnte der Earl. »Dann, hmm, müßt Ihr beim Aussteigen sehr vorsichtig sein.« Und er lachte vergnügt und tippte seinem Narren auf die Schulter. »Hast du das gehört, Tooley? Ich bin ebenso komisch wie du.«
Der Narr lächelte das trostloseste Lächeln, das man je gesehen hat. »Mir bersten die Seiten, mir brechen die Rippen, meine Heiterkeit ist unermeßlich, Euer Gnaden«, sagte er.
Die Türen öffneten sich zischend.
Door lächelte zu dem Earl empor. »Danke«, sagte sie.
»Fort mit Euch«, erwiderte der riesige alte Mann und scheuchte Door und Richard und Hunter aus dem warmen, verrauchten Waggon auf den leeren Bahnsteig. Und dann schlossen sich die Türen, und der Zug fuhr ab, und Richard ertappte sich dabei, wie er ein Schild anstarrte, das, egal, wie oft er blinzelte – sogar, wenn er weg- und ganz plötzlich wieder hinschaute, um es auf frischer Tat zu ertappen – eigensinnig dabei blieb:
BRITISH MUSEUM.
Kapitel Acht
Es war früh am Abend, und der wolkenlose Himmel wechselte seine Farbe von Königsblau zu einem tiefen Violett, mit einem Fleckchen Feuerorangerot und Limonengrün im Westen über Kensington, wo, jedenfalls von Old Baileys Standort aus gesehen, die Sonne gerade prachtvoll untergegangen war.
Himmel. Keiner wie der andere. Weder bei Tag noch bei Nacht. In Himmelsdingen war er so etwas wie ein Connaisseur, der alte Bailey, und dieser hier war ganz besonders gelungen.
Old Bailey hatte sein Zelt für die Nacht auf einem Dach gegenüber von St. Paul’s Cathedral aufgeschlagen, im Zentrum der City of London. Er mochte die Kathedrale, wenigstens sie hatte sich in den letzten dreihundert Jahren kaum verändert. Sie war aus weißem Portland-Stein gebaut, der durch den Ruß und Schmutz in der verqualmten Londoner Luft langsam schwarz geworden war, und jetzt war sie gereinigt worden und wieder weiß. Aber sie war immer noch St. Paul’s.
Er bezweifelte, daß auch die restliche City of London immer noch die alte war: Er lugte über das Dach, wandte den Blick von seinem geliebten Himmel ab und starrte hinunter auf die natriumbeleuchtete Straße. Er sah Überwachungskameras an einer Wand, ein paar Autos und einen späten Büroangestellten, der eine Tür abschloß und dann zur U-Bahn ging.
Brrr. Allein der Gedanke daran, sich unter die Erde zu begeben, ließ Old Bailey schaudern. Er war ein Dachmann, und darauf war er stolz; dem Erdboden war er schon vor langer Zeit entflohen …
Old Bailey erinnerte sich noch an Zeiten, als die Menschen noch hier in der City lebten, anstatt nur zu arbeiten; lebten und liebten und lachten, Häuser bauten, die sich eins ans andere lehnten, jedes voller Menschen. Tja, der Lärm und der Dreck und der Gestank und die Lieder aus der Gasse gegenüber (die damals Shitten Alley, vollgeschissene Gasse, hieß) waren zu ihrer Zeit legendär.
Jetzt lebte niemand mehr in der City. Sie war ein kaltes und freudloses Büroviertel geworden: Tagsüber arbeiteten die Menschen hier, und abends fuhren sie irgendwohin nach Hause. Die City war kein Ort zum Leben mehr. Er vermißte sogar den Gestank.
Das letzte Fleckchen Orange wurde zu einem nächtlichen Blaurot.
Er deckte die Käfige zu, damit die Vögel eine Mütze voll Schlaf nehmen konnten. Sie murrten und schlummerten dann ein.
Old Bailey kratzte sich an der Nase, ging dann in sein Zelt und holte einen rußgeschwärzten Kochtopf, Wasser, ein paar Karotten und Kartoffeln, Salz und zwei tote, gerupfte Stare heraus.
Er ging aufs Dach hinaus, machte in einer rußigen Kaffeebüchse ein kleines Feuer und setzte gerade seinen Eintopf auf, als ihm bewußt wurde, daß ihn jemand aus dem Schatten neben einem Schornstein heraus beobachtete.
Er nahm seine Röstgabel und gestikulierte damit drohend in Richtung Schornstein. »Wer ist da?«
Der Marquis de Carabas trat aus dem Schatten, verneigte sich flüchtig und lächelte strahlend. Old Bailey ließ seine Röstgabel sinken. »Ach«, sagte er. »Sie sind’s. Nun, was wollen Sie? Informationen? Oder Vögel?«
Der Marquis ging zu ihm, fischte eine rohe Karottenscheibe aus dem Eintopf und zerkaute sie. »Informationen«, sagte er. Old Bailey gluckste. »Hah!« sagte er. »Na, das ist ein Ding, was?« Dann beugte er sich zu dem Marquis. »Was bekomme ich dafür?«
»Was brauchen Sie?«
»Vielleicht sollte ich das gleiche wie Sie tun. Ich sollte verlangen, daß Sie mir eines Tages einen Gefallen tun müssen. Als Investition.« Old Bailey grinste.
»Das ist auf die Dauer viel zu teuer«, sagte der Marquis humorlos.
Old Bailey nickte. Jetzt, da die Sonne untergegangen war, wurde es sehr schnell sehr kalt.
»Dann eben Schuhe. Und eine Wollmütze.« Er inspizierte seine fingerlosen Handschuhe: Sie bestanden fast nur aus Löchern. »Und neue Handschuhe. Es wird ein hundsgemeiner Winter.«
»Wie Sie wollen. Ich werde Ihnen alles besorgen.« Der Marquis de Carabas steckte seine Hand in eine Innentasche und holte wie ein Zauberkünstler, der plötzlich eine Rose in der Hand hält, die schwarze Tierfigur hervor, die er aus Porticos Arbeitszimmer hatte mitgehen lassen. »Also. Was können Sie mir hierüber sagen?«
Old Bailey setzte seine Brille auf. Er nahm de Carabas den Gegenstand aus der Hand. Er fühlte sich kalt an. Old Bailey setzte sich auf das Gebläse einer Klimaanlage, und dann verkündete er, die Obsidianstatue hin- und herdrehend: »Das ist das Große Ungeheuer von London.«
Der Marquis sagte nichts. Seine Augen flackerten ungeduldig zwischen der Statue und Old Bailey hin und her.
Old Bailey genoß es, den Marquis ein wenig auf die Folter spannen zu können, und fuhr fort: »Also, es heißt, noch vor dem Feuer und der Pest habe ein Metzger unten am Fleet gelebt, und der besaß so eine arme Kreatur, die er für Weihnachten mästen wollte. (Einige sagten, es sei ein Ferkel, und andere meinten, es sei keins, und dann gab es noch welche, die wußten es gar nicht.) Eines Nachts ist das Tier weggelaufen, hinein ins Fleet, und es verschwand in der Kanalisation. Und es ernährte sich von den Abwässern, und es wuchs und wuchs. Und es wurde immer grausamer und gefährlicher. Von Zeit zu Zeit ließ man es jagen.«
»Es muß doch schon seit dreihundert Jahren tot sein.«
Old Bailey schüttelte den Kopf. »So etwas ist zu böse, um zu sterben. Zu alt und groß und häßlich.«
Der Marquis seufzte. »Ich dachte, das sei bloß eine Legende«, sagte er. »Wie die Alligatoren in der Kanalisation von New York.«
Old Bailey nickte weise: »Was, diese großen weißen Dinger? Die gibt es wirklich da unten. Ein Freund von mir hat durch so eins seinen Kopf verloren.« Kurze Stille. Old Bailey gab dem Marquis die Statue zurück. Dann hob er die Hand und schnappte damit nach de Carabas, als wäre sie ein Krokodilmaul. »War aber nicht so schlimm«, knurrte Old Bailey. »Er hatte noch einen.«
Der Marquis ließ die Statue des Ungeheuers in seinem Mantel verschwinden.
»Warten Sie«, sagte Old Bailey.
Er ging in sein braunes Zelt und kam mit dem silbernen Kästchen wieder heraus, das der Marquis ihm bei ihrem letzten Treffen gegeben hatte. Er streckte es dem Marquis entgegen. »Und was ist hiermit?« fragte er. »Wollen Sie es nicht wieder zurücknehmen? Mich gruselt’s, wenn ich es in meiner Nähe habe.«
Der Marquis ging zum Rand des Daches und ließ sich die zweieinhalb Meter bis zum nächsten Gebäude fallen. »Ich nehme es zurück, wenn all dies vorüber ist«, rief er. »Hoffen wir, daß Sie es nicht benutzen müssen.«
Old Bailey beugte sich vor. »Woher weiß ich denn, daß ich es muß?«
»Das werden Sie schon merken«, rief der Marquis. »Und die Ratten werden Ihnen sagen, was Sie damit anfangen sollen.«
Und damit schwang er sich über den Rand des Daches und glitt, sich an Abflußrohren und Simsen festhaltend, die Wand hinunter.