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»Hoffe nur, daß ich es niemals herausfinden muß«, sagte Old Bailey zu sich selbst. Dann kam ihm ein Gedanke.

»Hey!« rief er in die Nacht und die City hinaus. »Denken Sie an die Schuhe und die Handschuhe!«

Die Plakate warben für Horlicks, für Zugreisen ans Meer zum Preis von zwei Schilling, für Bücklinge und Stiefelwichse. Es waren rauchgeschwärzte Überreste der späten zwanziger oder frühen dreißiger Jahre.

Es schien dort vollkommen verlassen zu sein: ein vergessener Ort. »Das ist die Haltestelle British Museum«, gab Richard zu. »Aber … aber es hat nie eine Haltestelle British Museum gegeben. Das ist doch alles nicht wahr.«

»Sie wurde 1933 geschlossen und versiegelt«, sagte Door.

»Wie bizarr«, sagte Richard. Es war, als mache er einen Spaziergang mitten durch die Geschichte. Er hörte Züge durch nahegelegene Tunnel hallen, spürte den Luftzug, wenn sie vorbeifuhren. »Gibt es viele solche Haltestellen ?«

»Ungefähr fünfzig«, sagte Hunter. »Man kommt allerdings nicht in alle hinein. Nicht einmal wir.«

Etwas bewegte sich im Schatten am Rande des Bahnsteigs.

»Hallo«, sagte Door fröhlich. »Bin ich froh, daß du nicht auch tot bist.«

Richard rückte näher. »Ähm, Door. Könntest du der Ratte etwas für mich sagen?«

Die Ratte wandte ihm den Kopf zu. »Miss Whiskers sagt, wenn du ihr etwas sagen willst, kannst du es selbst tun«, sagte Door.

»Miss Whiskers?«

Door zuckte mit den Schultern. »Das ist eine wörtliche Übersetzung. Auf Rattisch klingt es besser.«

Daran hatte Richard keine Zweifel. »Ähm. Hallo … Miss Whiskers … Hör mal, es gab da jemanden von euren Rattensprecherleuten, ein Mädchen namens Anaesthesia. Sie hat mich zum Markt gebracht. Wir sind über diese Brücke im Dunkeln gegangen, und sie hat es einfach nicht bis auf die andere Seite geschafft.«

Die Ratte unterbrach ihn mit einem scharfen Quiek. Door begann stockend zu sprechen, wie eine Simultandolmetscherin. »Sie sagt … die Ratten geben dir nicht die Schuld für das Unglück. Die Nacht hat sich … hmm … deine Führerin als Tribut genommen.«

»Aber – «

Die Ratte quiekte wieder. »Manchmal kommen sie zurück... « sagte Door. »Und sie hat deine Besorgnis zur Kenntnis genommen … und dankt dir dafür.«

Die Ratte nickte Richard zu, blinzelte mit ihren perlenschwarzen Augen, sprang dann auf den Boden und huschte zurück in die Finsternis.

»Nette Ratte«, sagte Door. Ihre Laune hatte sich merklich verbessert, seit sie im Besitz der Schriftrolle war. »Dort oben«, fuhr sie fort und deutete auf einen Türbogen, der wie unüberwindlich durch eine Eisentür versperrt wurde.

Sie gingen hinüber. Richard drückte gegen das Metall. Es war von der anderen Seite verriegelt.

»Sieht aus, als wäre sie versiegelt«, sagte Richard. »Dafür brauchen wir Spezialwerkzeug.«

Door lächelte plötzlich; ihr Gesicht sah wie erleuchtet aus. Einen Moment lang war ihr Koboldgesicht richtig schön. »Richard«, sagte sie. »Meine Familie. Wir sind Öffner. Das ist unsere besondere Begabung. Schau her …« Sie streckte eine schmutzige Hand aus und berührte die Tür. Einen langen Moment lang passierte nichts, dann krachte es auf der anderen Seite der Tür laut, und auf ihrer Seite war ein Scheppern zu hören. Door stieß gegen die Tür, und mit einem schrillen Quietschen der verrosteten Türangeln ging sie auf.

Door stellte den Kragen ihrer Lederjacke hoch und steckte die Hände tief in die Taschen. Hunter leuchtete mit ihrer Taschenlampe in die Schwärze jenseits der Tür: eine steinerne Treppe, die hinauf ins Dunkel führte.

»Hunter. Können Sie als letzte gehen?« fragte Door. »Ich marschiere voran. Richard kommt in die Mitte.«

Sie stieg ein paar Stufen empor. Hunter blieb, wo sie war. »Lady?« fragte sie. »Gehen Sie nach Ober-London?«

»Richtig«, sagte Door. »Wir gehen ins British Museum. «

Hunter biß sich auf die Unterlippe. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich muß in Unter-London bleiben«, sagte sie. Ihre Stimme bebte leicht.

Richard stellte fest, daß er bei Hunter, die sonst ausschließlich mühelose Überlegenheit und gelegentlich nachsichtige Belustigung zur Schau trug, gerade zum ersten Mal so etwas wie eine Gefühlsregung bemerkte.

»Hunter«, sagte Door. »Sie sind meine Leibwächterin.«

Hunter war die Sache offenbar unangenehm. »Ich bin in Unter-London Ihre Leibwächterin«, sagte sie. »Nach Ober-London kann ich nicht mitkommen.«

»Aber das müssen Sie.«

»Mylady. Ich kann nicht. Ich dachte, das hätten Sie begriffen. Der Marquis weiß schließlich Bescheid.«

Hunter wird auf Sie aufpassen, solange Sie sich in Unter-London aufhalten, dachte Richard. Ja.

»Nein«, sagte Door, das spitze Kinn vorgeschoben, die seltsam gefärbten Augen verengt. »Ich begreife nicht. Was ist es?« fügte sie spöttisch hinzu. »Irgendein Fluch oder so etwas?«

Hunter zögerte, leckte sich die Lippen und nickte dann. Es war, als gäbe sie zu, an einer gesellschaftlich verpönten Krankheit zu leiden.

»Hören Sie zu, Hunter«, hörte Richard seine eigene Stimme sagen, »seien Sie doch nicht dumm.«

Einen Moment lang glaubte er, sie würde ihn schlagen, was schlimm gewesen wäre, oder sogar zu weinen anfangen, was noch sehr viel schlimmer gewesen wäre. Dann holte sie tief Luft und sagte in gemessenem Tonfalclass="underline" »Ich werde an Ihrer Seite sein, wenn Sie sich in Unter-London aufhalten, und ich werde Ihren Leib vor allem erdenklichen Übel beschützen. Aber verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen nach Ober-London folge. Das kann ich nicht.«

Sie verschränkte die Arme unter ihren Brüsten, stemmte die Beine leicht gegrätscht auf den Boden und sah – Unterwelt hin oder her – aus wie das unverrückbare Standbild einer Frau, die nirgendwo hingeht, aus Messing und Bronze und Karamel gegossen.

»Na gut«, sagte Door. »Komm, Richard.« Und sie stieg weiter die Stufen empor.

»Hör mal«, sagte Richard. »Warum bleiben wir nicht hier unten? Wir können den Marquis holen und dann alle zusammen losziehen, und – « Door verschwand in der Dunkelheit über ihm. Hunter stand wie angewurzelt am Fuß der Treppe.

»Ich werde hier warten, bis sie zurückkommt«, sagte Hunter zu ihm. »Sie können gehen oder bleiben, ganz wie Sie wollen.«

Richard jagte im Dunkeln die Stufen hoch, so schnell er konnte. Bald sah er Doors Lampe über sich leuchten. »Warte!« keuchte er. »Bitte!«

Sie blieb stehen und wartete darauf, daß er sie einholte. Und dann, als er sie eingeholt hatte und neben ihr auf einem Treppenabsatz stand, der so klein war, daß man Platzangst bekam, wartete sie, bis er wieder zu Atem kam.

»Du kannst doch nicht einfach so weglaufen«, sagte Richard. Door sagte nichts; ihre Lippen wurden etwas schmaler; ihr Kinn hob sich fast unmerklich.

»Sie ist deine Leibwächterin!« sagte Richard.

Door begann, die nächste Treppe hinaufzusteigen. Richard folgte ihr. »Wir sind schließlich bald wieder zurück«, sagte Door. »Dann kann sie mich weiter bewachen. «

Die Luft war dick, feucht, erdrückend. Richard fragte sich, wie man wohl ohne einen Kanarienvogel herausfand, ob die Luft giftig ist oder nicht, und begnügte sich damit zu hoffen, daß sie es nicht sei. »Ich glaube, der Marquis wußte wahrscheinlich wirklich Bescheid. Über ihren Fluch, oder was immer es ist«, sagte er.

»Ja«, sagte sie. »Das nehme ich auch an.«

»Er …«, begann Richard. »Der Marquis. Also, weißt du, um ehrlich zu sein, kommt er mir ein klein bißchen windig vor.« Door blieb stehen. Die Stufen endeten an einer schroffen Backsteinmauer. »Hm. Er ist ebenso ein klein bißchen windig, wie Ratten ein klein bißchen Fell am ganzen Körper haben.«