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»Warum hast du dann ausgerechnet ihn um Hilfe gebeten? Gab es denn niemand anderen, zu dem du mich hättest schicken können?«

»Darüber reden wir später.« Sie öffnete die Schriftrolle, die ihr der Earl gegeben hatte, überflog die altertümliche Handschrift und rollte sie wieder zusammen. »Wir werden es schon schaffen«, sagte sie entschlossen. »Es steht alles hier drin. Wir müssen nur ins British Museum kommen. Da suchen wir den Angelus, und dann gehen wir wieder. Ganz einfach. Nichts dabei. Kinderleicht. Mach die Augen zu.«

Richard schloß gehorsam die Augen.

»Nichts dabei«, wiederholte er. »Wenn das jemand im Film sagt, bedeutet das immer, daß gleich etwas Schreckliches passiert.«

Er spürte einen Luftzug auf seinem Gesicht. Irgendwie veränderte sich die Beschaffenheit der Finsternis vor seinen geschlossenen Augenlidern.

»Worauf willst du hinaus?« fragte Door. Die Akustik hatte sich ebenfalls verändert: Sie befanden sich in einem größeren Raum. »Du kannst jetzt die Augen wieder aufmachen. « Er öffnete die Augen. Sie waren auf der anderen Seite der Mauer, in einer Art Rumpelkammer, nahm er an. Allerdings nicht irgendeiner Rumpelkammer: Dieses Gerümpel hatte etwas ziemlich Ausgefallenes an sich. Wo gibt es so ein prachtvolles, seltenes, fremdartiges und kostbares Gerümpel, wenn nicht im …

»Sind wir im British Museum?« fragte er.

Sie runzelte die Stirn und schien nachzudenken oder zu lauschen. »Nicht direkt. Wir sind ganz in der Nähe. Ich glaube, das hier muß eine Art Lager sein oder sowas.«

Sie streckte die Hand aus und berührte den Stoff eines antiken Anzuges, der einer Wachspuppe angezogen worden war. »Ich wünschte, wir wären unten bei der Leibwächterin geblieben«, sagte Richard.

Door legte den Kopf zur Seite und sah ihn ernst an. »Wovor mußt du denn beschützt werden, Richard Mayhew? «

»Vor nichts«, gab er zu. Und dann bogen sie um die Ecke, und er sagte: »Na ja … vielleicht vor denen«, und gleichzeitig sagte Door: »Scheiße.«

Der Grund, weshalb Richard »Vielleicht vor denen« und Door »Scheiße« sagte, war folgender: Mr. Croup und Mr. Vandemar standen auf Sockeln zu beiden Seiten des Ganges, den sie gerade entlanggingen. Sie erinnerten Richard auf schreckliche Weise an eine Ausstellung moderner Kunst, in die ihn Jessica einmal mitgenommen hatte: Ein aufregender junger Künstler wollte damit alle Tabus der Kunstgeschichte brechen, und zu diesem Zweck hatte er systematisch Gräber geplündert und die dreißig interessantesten Ergebnisse seiner Raubzüge in Glaskästen ausgestellt.

Die Ausstellung wurde geschlossen, nachdem der Künstler den ›Gestohlenen Leichnam Nummer 25‹ für eine sechsstellige Summe an eine Werbeagentur verkauft hatte und die Angehörigen des ›Gestohlenen Leichnams Nummer 25‹, die ein Foto der Skulptur in der Sun gesehen hatten, beide auf einen Anteil am Erlös verklagten und darauf, daß der Name des Kunstobjekts zu ›Edgar Fospring, 1919-1987, Unser liebender Gatte, Vater und Onkel. Ruhe in Frieden, Papa‹ geändert wurde.

Richard hatte die im Glas eingeschlossenen Leichen in ihren fleckigen Anzügen und zerrissenen Kleidern voll Grausen angestarrt: Er haßte sich dafür, daß er hinschaute, doch wegschauen konnte er auch nicht.

Mr. Croup lächelte wie eine Schlange, die versucht, die Mondsichel zu verschlucken, was seine Ähnlichkeit mit den Gestohlenen Leichnamen Nummer 1 bis 30 nur noch verstärkte. »Was?« fragte der lächelnde Mr. Croup. »Wo ist denn der Herr ›Was bin ich schlau‹-Marquis? Und ‹Ach, hab, ich euch das nicht gesagt? Hoppla! Ich kann nicht nach oben!‹-Hunter?« Er machte eine dramatische Pause. Mr. Croup hatte etwas von einem verfaulten Schinken an sich. »Da mal mich doch einer grau an und nenn mich den bösen Wolf, wenn das nicht zwei verirrte Lämmchen sind, ganz allein in der Finsternis.«

»Mich können Sie auch ruhig Wolf nennen, Mister Croup«, sagte Mr. Vandemar zuvorkommend.

Mr. Croup kletterte von seinem Sockel herunter. »Ein freundliches Wort in eure wolligen Ohren, kleine Lämmchen«, sagte er. Richard schaute sich um. In irgendeine Richtung mußten sie doch weglaufen können. Er griff hinunter, umklammerte Doors Hand und ließ verzweifelt seinen Blick umherschweifen.

»Nein, bitte. Bleiben Sie einfach, wo Sie sind«, sagte Mr. Croup. »So gefallen Sie uns am besten. Und wir wollen Ihnen doch nicht wehtun müssen.«

»Doch«, sagte Mr. Vandemar.

»Nun ja, Mister Vandemar, wenn Sie es unbedingt so deutlich sagen müssen. Wir wollen Ihnen beiden wehtun. Wir wollen Ihnen außerordentlich wehtun. Aber deshalb sind wir zur Zeit nicht hier. Wir sind hier, um die Sache interessanter zu machen. Sehen Sie, wenn wir uns langweilen, werden mein Partner und ich nervös, und, so schwer das auch zu glauben sein mag, dann ist es vorbei mit unserem sonnigen Gemüt.« Mr. Vandemar zeigte ihnen die Zähne, um ihnen sein sonniges Gemüt zu demonstrieren. Es war zweifellos das Schrecklichste, was Richard je gesehen hatte.

»Laßt uns in Ruhe«, sagte Door. Ihre Stimme war klar und fest.

Richard drückte ihre Hand. Wenn sie mutig sein konnte, dann konnte er es auch. »Wenn ihr ihr wehtun wollt«, sagte er, »müßt ihr zuerst mich umbringen.«

Mr. Vandemar schien angesichts dieser Aussicht überaus erfreut. »In Ordnung«, sagte er. »Danke.«

»Wehtun werden wir Ihnen aber auch«, ergänzte Mr. Croup. »Jetzt allerdings noch nicht«, sagte Mr. Vandemar.

»Wissen Sie«, erklärte Mr. Croup mit einer Stimme wie ranzige Butter, »im Moment sind wir nämlich nur hier, um ihr Angst zu machen.«

Mr. Vandemars Stimme war ein Nachtwind, der über eine Wüste voller Knochen blies. »Um sie leiden zu lassen«, sagte er. »Ihnen den Tag zu verderben.«

Mr. Croup setzte sich auf den Fuß von Mr. Vandemars Sockel. »Sie haben heute dem Earl’s Court einen Besuch abgestattet«, sagte er in einem Ton, den er, wie Richard vermutete, fälschlicherweise für heiter und beschwingt hielt.

»Und?« fragte Door. Sie begann, von ihnen abzurücken.

Mr. Croup lächelte. »Woher wissen wir das? Woher wußten wir, wo wir Sie finden konnten?«

»Sie entkommen uns nicht«, sagte Mr. Vandemar beinahe im Flüsterton.

»Man hat Sie reingelegt, kleine Lady«, sagte Mr. Croup zu Door, und zwar, wie Richard feststellte, nur zu Door. »Sie haben einen Verräter im Nest. Einen Kuckuck.«

»Komm!« sagte sie. Und sie rannte los.

Richard rannte mit, durch die Halle mit dem Gerümpel, auf eine Tür zu. Auf Doors Berührung hin öffnete sie sich.

»Sagen Sie ihnen Lebwohl, Mister Vandemar«, hörten sie Mr. Croups Stimme hinter sich.

»Bye-bye«, sagte Mr. Vandemar.

»Nein-nein«, verbesserte Mr. Croup. »Au revoir.«

Dann machte er ein Geräusch – ein Kuck-kuck, Kuck-kuck, wie es ein Kuckuck vielleicht machen würde, wenn er einen Meter siebzig groß wäre und eine Schwäche für Menschenfleisch hätte –, während Mr. Vandemar, was mehr seinem Charakter entsprach, seinen Ballonschädel zurückwarf und wie ein Wolf heulte, geisterhaft und wild und irr.

Sie waren draußen im Freien, nachts, und rannten eine Straße entlang. Richard glaubte, ihm würde vor Herzklopfen die Brust zerspringen. Ein großes schwarzes Auto fuhr vorbei.

Das British Museum lag jenseits eines hohen, schwarzlackierten Gitters. Diskretes indirektes Licht erhellte die Außenfront des hohen weißen Gebäudes, die Säulen und Stufen und Mauern.

Sie erreichten ein Tor. Door umklammerte es mit beiden Händen und drückte dagegen. Nichts geschah.

»Kannst du nicht machen, daß es aufgeht?« fragte Richard.

»Was glaubst du, was ich hier versuche?« fauchte sie ihn an. Etwa hundert Meter die Straße hinunter, vor dem Haupteingang, fuhren große Wagen vor, elegant gekleidete Paare stiegen aus und gingen die Zufahrt zum Museum hinauf.

»Da drüben«, sagte Richard. »Der Haupteingang.«