Er trat einen Schritt auf sie zu.
»Wir begleiten Sie hier heraus, und wir lassen Sie gehen. «
»Was ist mit Richard?« fragte sie.
Sie sah, wie er unter seiner Kapuze den Kopf schüttelte, traurig, endgültig.
»Ich hätte den Marquis mitnehmen sollen«, sagte Door; und sie fragte sich, wo er war und was er gerade tat.
Der Marquis de Carabas wurde gerade auf einem großen x-förmigen Holzgebilde gekreuzigt, das Mr. Vandemar aus ein paar alten Paletten, dem Teil eines Stuhls, einem Holztor und etwas, das offenbar ein Wagenrad war, zusammengebastelt hatte. Außerdem hatte er eine große Schachtel rostiger Nägel zu Hilfe genommen. Mr. Vandemar stand auf einer Leiter und zog die ganze Vorrichtung hoch.
»Ein bißchen höher«, rief Mr. Croup, der unten auf der Erde stand. »Ein bißchen nach links. Ja. Genau. Wunderbar. «
Es war schon sehr lange her, seit sie das letzte Mal jemanden gekreuzigt hatten.
Die Arme und Beine des Marquis de Carabas waren zu einem breiten X gespreizt. Nägel steckten in seinen Händen und Füßen. Um seine Mitte war ein Seil gebunden. Er war bewußtlos.
Das ganze Gebilde baumelte, von mehreren Seilen gehalten, in der Luft, dort, wo sich früher einmal die Kantine des Krankenhauses befunden hatte.
Mr. Croup hatte am Boden einen großen Berg scharfer Gegenstände zusammengetragen: von Rasierern und Küchenmessern bis zu herrenlosen Skalpellen und Lanzetten und ein paar interessanten Sachen, die Mr. Vandemar in der ehemaligen zahnärztlichen Abteilung gefunden hatte. Es war sogar ein Schürhaken aus dem Heizraum darunter.
»Warum schauen Sie nicht mal nach, wie es ihm geht, Mister Vandemar?« fragte er.
Mr. Vandemar streckte seinen Hammer aus und hob damit das Kinn des Marquis an.
Die Lider des Marquis zitterten und öffneten sich. Er holte tief Luft und spuckte Mr. Croup einen Klumpen scharlachroten Blutes ins Gesicht.
»Wie unartig«, sagte Mr. Croup streng. In Wirklichkeit war er recht erfreut.
Wurfübungen machen viel mehr Spaß, wenn das Ziel wach ist.
Der Kessel brodelte heftig. Richard betrachtete das kochende Wasser und fragte sich, was sie wohl damit anstellen würden. Seine Fantasie hatte mit Leichtigkeit alle möglichen Antworten parat.
Keine davon war richtig.
Das kochende Wasser wurde in eine Kanne geschüttet, und Bruder Fuliginous fügte drei Löffel Teeblätter hinzu. Die sich daraus ergebende Flüssigkeit wurde aus der Kanne durch ein Teesieb in drei Porzellantassen gegossen.
Der Abt hob seinen Kopf, sog die Luft ein und lächelte. »Der erste Teil der Bewährungsprobe«, sagte er, »ist eine schöne Tasse Tee. Nimmst du Zucker?«
»Nein danke«, sagte Richard mißtrauisch.
Bruder Fuliginous goß ein wenig Milch in den Tee und reichte Richard eine Tasse mit Untertasse.
»Ist er vergiftet?« fragte Richard.
Der Abt sah beinahe beleidigt aus. »Gute Güte, nein.«
Richard nippte an dem Tee, der mehr oder weniger genau wie Tee schmeckte. »Aber es gehört zur Prüfung?«
Bruder Fuliginous nahm die Hände des Abts und legte sie um eine Tasse Tee.
»In gewisser Weise. Wir servieren den Suchenden immer gern eine Tasse Tee, bevor sie beginnen. Für uns gehört das zur Prüfung. Für dich nicht.« Der Abt nippte an seinem Tee, und ein glückseliges Lächeln breitete sich auf seinem uralten Gesicht aus. »Ziemlich guter Tee, alles in allem.«
Richard setzte seine Teetasse ab. »Hätten Sie dann etwas dagegen«, fragte er, »wenn wir jetzt einfach mit der Prüfung weitermachen würden?«
»Keineswegs«, sagte der Abt. »Keineswegs.«
Er stand auf. Die drei gingen zu einer Tür am entgegengesetzten Ende des Raums.
»Gibt es … «, Richard zögerte und versuchte, sich zu entscheiden, was er fragen wollte. Dann sagte er: »Gibt es irgend etwas, das Sie mir über die Prüfung sagen können? «
Der Abt schüttelte den Kopf.
Es gab wirklich nichts zu sagen: Er pflegte den Suchenden zur Tür zu geleiten. Und dann wartete er ein oder zwei Stunden. Danach ging er wieder hinein und holte die Überreste des Suchenden aus der Kapelle und bestattete sie in der Gruft. Und manchmal war einer noch nicht tot, obwohl man das, was von ihm übrig war, auch nicht lebendig nennen konnte. Und für diese Unglücklichen sorgten die Black Friars, so gut sie eben konnten.
»Na gut«, sagte Richard. Und er lächelte. »Also dann: Macduff, voran.«
Bruder Fuliginous zog die Bolzen an der Tür zurück. Sie knallten wie zwei Schüsse. Er zog die Tür auf.
Richard trat hindurch.
Bruder Fuliginous stieß die Tür hinter ihm zu und verriegelte sie wieder.
Er geleitete den Abt zu seinem Stuhl zurück und gab dem alten Mann die Teetasse wieder in die Hand. Der Abt nippte schweigend an seinem Tee. Und dann sagte er: »Eigentlich heißt es ›Macduff, stoß zu‹. Aber ich hab’ es nicht übers Herz gebracht, ihn zu verbessern. Er klang wie ein sehr netter junger Mann.«
Kapitel Zwölf
Richard Mayhew ging den U-Bahnsteig entlang.
Die Haltestelle erkannte er nicht. Es war eine Station der District Line: Auf dem Schild stand BLACKFRIARS.
Der Bahnsteig war leer. Irgendwo röhrte ein U-Bahnzug und blies einen Geisterwind herüber, der ein Exemplar der Sun in einzelne Seiten zerlegte und Brüste und Beleidigungen über den Bahnsteig huschen und auf die Gleise taumeln ließ.
Richard schaute von links nach rechts.
Dann setzte er sich auf eine Bank und wartete darauf, daß etwas geschah.
Nichts geschah.
Er rieb sich den Kopf, und ihm war etwas übel.
Auf dem Bahnsteig erklangen Schritte. Er blickte auf: Ein affektiert wirkendes Kind ging an ihm vorbei, Hand in Hand mit einer Frau, die aussah wie eine größere, ältere Ausgabe des Kindes. Sie sahen ihn an, und dann schauten sie ziemlich offensichtlich weg.
»Geh nicht zu dicht an ihn ran, Melanie«, mahnte die Mutter in einem äußerst hörbaren Flüsterton.
Melanie starrte Richard an, wie Kinder einen anstarren, ohne Verlegenheit oder Hemmungen. Dann sah sie wieder ihre Mutter an. »Warum leben solche Menschen weiter? « fragte sie neugierig.
»Zu feige, um allem ein Ende zu machen«, erklärte ihre Mutter.
Melanie riskierte noch einen Blick. »Jämmerlich«, sagte sie. Ihre Füße klackten den Bahnsteig entlang davon, und bald waren sie fort.
Er fragte sich, ob er sich das eingebildet hatte. Er versuchte sich zu erinnern, warum er sich auf diesem Bahnsteig befand. Wartete er auf eine U-Bahn? Wo wollte er hin?
Er wußte es nicht.
Er saß da. Träumte er? Er betastete mit den Händen den harten Plastiksitz unter sich, stampfte mit schlammverkrusteten Schuhen auf den Bahnsteig (woher kam der Schlamm?), berührte sein Gesicht … Nein. Das war kein Traum. Wo er auch war, es war Wirklichkeit.
Er fühlte sich seltsam: losgelöst und deprimiert und entsetzlich, merkwürdig traurig.
Jemand setzte sich neben ihn. Richard blickte nicht auf, wandte nicht den Kopf.
»Hallo«, sagte eine vertraute Stimme. »Wie geht’s dir, Dick? Alles in Ordnung?«
Richard sah auf. Er spürte, wie sein Gesicht sich zu einem Lächeln verzog, wie die Hoffnung ihn wie ein Faustschlag vor die Brust traf. »Garry?« fragte er ängstlich. Dann: »Du kannst mich sehen?«
Garry grinste. »Du warst schon immer ein Witzbold«, sagte er. »Echt ’n lustiger Typ.«
Garry trug Anzug und Krawatte. Er war sauber rasiert, und jedes Haar lag an seinem Platz. Richard wurde klar, wie er selbst aussehen mußte: schlammverkrustet, unrasiert, zerknittert …
»Garry? Ich … hör zu, ich weiß, wie ich aussehen muß. Ich kann das erklären.« Er dachte kurz nach. »Nein … kann ich nicht. Nicht wirklich.«