Eine tiefe Stimme drang aus dem Lautsprecher. »Die Londoner Verkehrsbetriebe bitten Sie für die Verzögerung um Verzeihung. Schuld daran ist ein Vorfall an der Haltestelle Blackfriars.«
»Dazu«, sagte Garry. »Ein Vorfall an der Haltestelle Blackfriars zu werden. Allem ein Ende zu machen. Dein Leben ist ein freudloser, leerer Schwindel ohne jede Liebe. Du hast keine Freunde – «
»Ich habe dich«, flüsterte Richard.
Garry taxierte Richard mit offenem Blick. »Für mich bist du ein Schwachkopf«, sagte er.
»Ich habe Door und Hunter und Anaesthesia.«
Garry lächelte. Mitleid lag in diesem Lächeln, und das tat Richard mehr weh als irgend etwas sonst.
»Noch mehr imaginäre Freunde? Wir haben dich im Büro alle wegen dieser Trolle ausgelacht. Weißt du noch? Auf deinem Schreibtisch.« Er lachte.
Auch Richard begann zu lachen. Es war alles zu furchtbar: Man konnte nur noch lachen. Nach einer Weile hörte er auf. Garry steckte die Hand in seine Tasche und holte einen Troll hervor. Er hatte lila Haare, und er hatte einmal oben auf Richards Computermonitor gestanden. »Hier«, sagte Garry. Er warf ihn Richard zu.
Richard versuchte ihn zu fangen. Er streckte die Hände aus, doch der Troll fiel hindurch, als wären sie gar nicht da.
Richard ließ sich auf Hände und Knie nieder und tastete nach dem Troll. Es schien ihm, als sei er das einzige, was ihm von seinem wahren Leben noch geblieben war: Wenn er nur den Troll zurückbekäme, würde er vielleicht alles zurückbekommen …
Blitz.
Es war wieder Rush-hour. Ein Zug spie Hunderte von Menschen aus, und Hunderte andere versuchten einzusteigen, und Richard kauerte am Boden und wurde von den Pendlern getreten und gestoßen. Jemand trat ihm fest auf die Finger. Er schrie schrill auf und steckte sich die Finger in den Mund wie ein Kind. Sie schmeckten sehr schlecht.
Das war ihm egal. Er sah den Troll am Rand des Bahnsteigs, nur noch drei Meter entfernt.
Er kroch langsam auf allen vieren durch die Menge, über den Bahnsteig. Leute beschimpften ihn; sie stellten sich ihm in den Weg; sie schubsten ihn. Er hätte nie gedacht, daß drei Meter so lang sein könnten. Er hörte eine gellende Stimme kichern, und er fragte sich, wer das sein könnte. Es war ein beunruhigendes Kichern, eklig und irr. Er fragte sich, was für ein Mensch so kichern konnte. Er schluckte, und das Kichern hörte auf, und da wußte er es.
Eine ältliche Frau stieg in den Zug und stieß dabei mit dem Fuß den lila-haarigen Troll hinunter in die Dunkelheit, hinunter in die Leere zwischen dem Zug und dem Bahnsteig.
»Nein«, sagte Richard. Er lachte immer noch, ein unangenehmes, röchelndes Lachen, doch Tränen brannten in seinen Augen und liefen über seine Wangen. Er rieb sich mit den Händen die Augen, aber dadurch brannten sie nur noch mehr.
Blitz.
Und dann war der Bahnsteig wieder verlassen und dunkel. Er rappelte sich auf und ging unsicher den letzten Meter bis zum Bahnsteigrand.
Dort unten sah er ihn, unten auf den Gleisen, bei der dritten Schiene, derjenigen, die unter Strom stand: einen kleinen Spritzer Lila. Seinen Troll.
Er schaute geradeaus: An der Wand auf der anderen Seite der Gleise klebten große Plakate. Die Plakate warben für Kreditkarten und Sportschuhe und Urlaub auf Zypern. Während er hinschaute, verzerrten und verwandelten sich die Wörter. Neue Botschaften:
MACH ALLEM EIN ENDE war eine davon.
ERLÖSE DICH VON DEM ELEND.
SEI EIN MANN – BRING DICH UM.
ERLEIDE NOCH HEUTE EINEN TÖDLICHEN UNFALL.
Er nickte. Er führte Selbstgespräche. Das stand nicht wirklich auf den Plakaten. Ja. Er führte Selbstgespräche, und es wurde Zeit, daß er sich zuhörte.
Er hörte einen Zug, nicht weit entfernt, auf die Haltestelle zufahren.
Er biß die Zähne zusammen und schwankte vor und zurück, als würde er immer noch von den Pendlern geschubst, obwohl er allein auf dem Bahnsteig war.
Der Zug kam auf ihn zu. Und da begriff er, wie wenig Mühe es ihn kosten würde, den Schmerz zum Schweigen zu bringen, all dem Schmerz für immer und ewig ein Ende zu machen.
Er steckte die Hände in die Taschen und holte tief Luft. Es wäre so einfach. Ein Augenblick des Schmerzes, und dann wäre alles aus und vorbei …
Da war etwas in seiner Tasche. Er betastete es mit den Fingern: etwas Glattes und Hartes und mehr oder weniger Rundes.
Er holte es hervor: eine Quarzperle.
Ihm fiel wieder ein, wie er sie aufgehoben hatte. Er war auf der anderen Seite der Night’s Bridge gewesen. Sie hatte zu Anaesthesias Halskette gehört.
Und von irgendwoher, in seinem Kopf oder außerhalb davon, glaubte er das Rattenmädchen sagen zu hören: »Richard. Halt durch.«
Er nickte und steckte die Perle wieder in die Tasche. Und er stand auf dem Bahnsteig und wartete auf den Zug. Er fuhr ein, wurde langsamer und hielt.
Die Zugtüren öffneten sich zischend.
Der Waggon war voller toter Menschen; aller möglichen Arten toter Menschen. Da waren frische Leichen mit zerfetzter Kehle und Einschußlöchern in der Schläfe. Da waren alte, vertrocknete Körper. An den Haltegriffen hingen mit Spinnweben bedeckte Kadaver, und auf den Sitzen lümmelten sich wie vom Krebs entstellte Wesen. Jede Leiche war offenbar, soweit man das beurteilen konnte, von eigener Hand gestorben.
Es gab männliche Leichen und weibliche Leichen.
Richard glaubte, er habe einige dieser Gesichter schon mal gesehen, an eine lange Wand geheftet, doch er wußte nicht mehr, wo oder wann.
Der Waggon roch, wie eine Leichenhalle am Ende eines langen, heißen Sommers riechen mochte, in dessen Verlauf das Kühlsystem den Geist aufgegeben hatte.
Richard hatte keine Ahnung mehr, wer er war; keine Ahnung, was wahr war und was nicht; ob er mutig war oder feige, verrückt oder nicht.
Aber er wußte, was er als nächstes tun mußte. Er stieg in den Zug.
Und alle Lichter gingen aus.
Die Bolzen wurden zurückgezogen. Es knallte zweimal laut. Die Tür zu der winzigen Kapelle wurde aufgestoßen, und Lampenlicht strömte aus dem Flur herein.
Es war ein kleiner Raum mit einer hohen gewölbten Decke. Ein silberner Schlüssel hing an einem Faden vom Scheitelpunkt der Decke herab. Der Wind, den das Öffnen der Tür erzeugt hatte, ließ den Schlüssel vor und zurück schwingen und sich dann langsam drehen, erst in die eine Richtung und dann in die andere.
Der Abt hielt Bruder Fuliginous’ Arm, und die beiden Männer gingen Seite an Seite in die Kapelle. Dann ließ der Abt den Arm des Mönchs los und sagte: »Hol die Leiche, Bruder Fuliginous.«
»Aber. Aber Vater …«
»Was ist?«
Bruder Fuliginous ließ sich auf ein Knie nieder. Der Abt hörte Finger über Stoff und Haut streichen. »Er ist nicht tot.«
Der Abt seufzte. Es war schlimm, so etwas zu denken, das wußte er, aber er war ehrlich der Meinung, es sei viel gnädiger, wenn sie gleich starben. Dies war sehr viel schlimmer. »Wieder so einer, hm?« sagte er. »Nun ja, wir kümmern uns um die arme Kreatur, bis sie endlich vollends erlöst wird. Bring ihn ins Krankenzimmer.«
Und eine schwache Stimme sagte sehr leise: »Ich bin keine … arme Kreatur …«
Der Abt hörte, wie jemand aufstand; hörte, wie Bruder Fuliginous scharf Luft holte.
»Ich … ich glaube, ich hab’s geschafft«, sagte Richard Mayhews Stimme unsicher. »Vorausgesetzt, die Bewährungsprobe geht nicht noch weiter.«
»Nein, mein Sohn«, sagte der Abt.
Stille. »Ich … ich würde jetzt gern meine Tasse Tee trinken, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Richard.
»Aber gewiß«, sagte der Abt. »Hier entlang.«
Richard starrte den alten Mann an. Der Abt zitterte. Die weißlichblauen Augen starrten ins Nichts. Er schien sich zu freuen, daß Richard am Leben war, aber …