»Verzeihung, Sir?« sagte Bruder Fuliginous respektvoll zu Richard. »Vergessen Sie Ihren Schlüssel nicht.«
»Oh. Ja. Danke.«
Den hatte er völlig vergessen. Er streckte die Hand aus und schloß sie um den silbernen Schlüssel, der sich langsam an seinem Band drehte. Er zog, und das Band riß mit Leichtigkeit.
Richard öffnete die Faust, und der Schlüssel starrte ihn aus seiner Handfläche an.
»… doch Zähne durchaus«, erinnerte sich Richard. »Wer bin ich?«
Er steckte ihn in die Tasche, zu der kleinen Quarzperle, und gemeinsam verließen sie diesen Ort.
Der Nebel wurde langsam dünner. Hunter war zufrieden. Sie war jetzt sicher, daß sie Lady Door, wenn es nötig sein sollte, unverletzt vor den Mönchen retten könnte und selbst mit nur geringen Fleischwunden davonkommen würde.
Auf der anderen Seite der Brücke war ein Flirren zu sehen.
»Da ist irgendwas los«, sagte Hunter halblaut. »Machen Sie sich zum Losrennen bereit.«
Die Mönche zogen sich zurück.
Richard, der Oberweltler, kam an der Seite des Abts durch den Nebel. Richard wirkte … Hunter musterte ihn prüfend, um herauszufinden, was sich verändert hatte. Sein Gleichgewichtszentrum hatte sich nach unten verlagert, war mehr in den Mittelpunkt gerückt. Nein … es war mehr als das.
Er wirkte …
Er wirkte, als sei er erwachsener geworden. »Noch am Leben?« sagte Hunter.
Er nickte, steckte die Hand in die Tasche und zog einen silbernen Schlüssel hervor. Er warf ihn Door zu, die ihn fing und dann Richard um den Hals fiel und ihn so fest drückte, wie sie konnte.
Dann ließ sie ihn wieder los und lief zum Abt. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wieviel das für uns bedeutet«, sagte sie zu ihm.
Er lächelte, schwach, aber würdevoll. »Mögen der Temple und der Arch mit euch allen sein, auf eurer Reise durch die Unterseite«, sagte er.
Door knickste, und dann ging sie, den Schlüssel fest umklammernd, zurück zu Richard und zu Hunter.
Die drei Reisenden schritten die Brücke hinab.
Die Mönche standen auf der Brücke, bis sie außer Sichtweite waren, verloren in dem alten Nebel der Welt unter der Welt. »Der Schlüssel ist nicht mehr unser«, sagte der Abt. »Gott steh uns bei.«
Kapitel Dreizehn
Der Engel Islington hatte einen dunklen und stürmischen Traum.
Riesige Wogen stiegen empor und schlugen über der Stadt zusammen; von einem Horizont zum andern zerrissen Blitze den Himmel; der Regen fiel, die Stadt erzitterte; Feuer brach in der Nähe des großen Amphitheaters aus. Islington blickte von hoch oben darauf hinab, er schwebte in der Luft, wie man es in Träumen tut, wie er es in jenen längst vergangenen Tagen getan hatte. Es gab Gebäude in dieser Stadt, die viele hundert Meter hoch waren, doch vor den grünen Wogen des Atlantiks wirkten sie winzig klein.
Und dann hörte er die Menschen schreien.
Vier Millionen Menschen lebten in Atlantis. Und in seinem Traum hörte Islington jede einzelne Stimme, klar und deutlich, als sie schrien und erstickten und verbrannten und starben.
Die Wogen verschluckten die Stadt, und der Sturm legte sich wieder.
Beim Morgengrauen gab es keine Anzeichen mehr dafür, daß es dort je eine Stadt gegeben hatte. Nichts als die vom Wasser aufgeblähten Leiber von Kindern, von Frauen und von Männern, die auf den kalten Morgenwellen trieben; Leiber, an denen die grauweißen Möwen bereits mit ihren grausamen Schnäbeln zu picken begannen.
Und Islington erwachte.
Er stand neben der großen schwarzen Tür aus Feuerstein und angelaufenem Silber. Er berührte die kalte Glätte des Feuersteins, die Kühle des Metalls.
Er berührte den Tisch. Er fuhr flüchtig mit den Fingern über die Wände.
Dann durchschritt er die Gemächer seines Saals, eins nach dem anderen, und berührte alle möglichen Gegenstände.
Beim Gehen folgte er Mustern, glatten Rinnen, die seine nackten Füße im Laufe der Jahrhunderte im Fels hinterlassen hatten. Als er beim Felsbecken angekommen war, blieb er stehen. Er kniete nieder und berührte mit den Fingern das Wasser.
Es kräuselte sich. Die Spiegelungen im Becken, die den Engel und die Kerzenflammen, die ihn umrahmten, zeigten, gerieten schimmernd in Bewegung und verformten sich.
Er blickte in einen Keller.
Der Engel konzentrierte sich einen Augenblick lang. Irgendwo in der Ferne hörte er ein Telefon klingeln. Mr. Croup ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. Er sah reichlich selbstzufrieden aus. »Croup und Vandemar«, bellte er. »Im Angebot: Augen ausstechen, Nasen zerschlagen, Zungen durchbohren, Kinne spalten und Kehlen durchschneiden.«
»Mister Croup«, sagte der Engel. »Sie haben jetzt den Schlüssel. Ich will, daß das Mädchen namens Door auf ihrem Weg zu mir zurück nicht zu Schaden kommt.«
»Nicht zu Schaden kommt«, wiederholte Mr. Croup unbeeindruckt. »Gut. Wir passen auf, daß sie nicht zu Schaden kommt. Was für eine glänzende Idee – sehr originell. Wirklich erstaunlich. Die meisten Menschen würden Mörder für Exekutionen engagieren, für hinterhältige Morde, sogar für abscheuliche Massaker. Nur Sie, Sir, beauftragen die beiden besten Killer in Zeit und Raum, aufzupassen, daß einem kleinen Mädchen nichts zustößt.«
»Es ist mein Ernst, Mister Croup. Ihr darf kein Leid geschehen. Wenn Sie ihr irgend etwas antun, bekommen Sie es mit mir zu tun. Verstanden?«
»Ja.«
»Gibt es sonst noch etwas?« fragte Islington.
»Ja, Sir.« Croup hustete in seine Hand. »Erinnern Sie sich noch an den Marquis de Carabas?«
»Gewiß.«
»Ich vermute, die Auslöschung des Marquis ist nicht mit einem derartigen Verbot belegt … ?«
»Nein«, sagte der Engel. »Hauptsache, Sie beschützen das Mädchen.«
Er zog die Hand aus dem Wasser. Jetzt spiegelten sich nur noch Kerzenflammen und ein Engel darin wider.
Und dann stand der Engel Islington auf und kehrte gemessenen Schritts in seine inneren Gemächer zurück, um auf seine Gäste zu warten.
»Was hat er gesagt?« fragte Mr. Vandemar.
»Er hat gesagt, Mister Vandemar, daß wir mit dem Marquis verfahren können, wie es uns beliebt.«
Vandemar nickte. »Einschließlich ihn auf quälend schmerzhafte Weise umbringen?«
»Ja, Mister Vandemar, das will ich meinen.«
»Das ist gut, Mister Croup. Würde mir ungern noch so eine Standpauke anhören.« Er blickte zu dem blutigen Etwas hoch, das über ihnen hing. »Dann sollten wir besser die Leiche loswerden.«
Eines der Vorderräder des Einkaufswagens quietschte und zog beharrlich nach links. Mr. Vandemar war auf einer mit Gras zugewachsenen Verkehrsinsel in der Nähe des Krankenhauses auf den Einkaufswagen gestoßen. Er hatte, wie ihm auf den ersten Blick aufgefallen war, genau die richtige Größe für einen Leichentransport. Mr. Vandemar hätte die Leiche natürlich auch tragen können; aber dann hätte sie ihn vielleicht vollgeblutet oder mit anderen Flüssigkeiten besudelt. Und er besaß nur den einen Anzug.
Daher schob er den Einkaufswagen mit der Leiche des Marquis de Carabas darin den Abwasserkanal entlang, und die Karre machte quietsch, quietsch und zog nach links.
Er wünschte, zur Abwechslung würde Mr. Croup den Wagen einmal schieben.
Doch Mr. Croup redete. »Wissen Sie, Mister Vandemar«, sagte er, »gegenwärtig bin ich zu entzückt, zu beglückt, um nicht zu sagen zu trunken vor Freude, um zu meckern, maulen oder murren – nachdem wir endlich tun durften, was wir am besten können – «
Mr. Vandemar passierte eine besonders diffizile Ecke. »Jemanden umbringen, meinen Sie?« fragte er.
Mr. Croup strahlte. »Jemanden umbringen meine ich in der Tat, Mister Vandemar, Sie tapfere Seele, Sie prächtiger, edler Gesell’. Dennoch dürfte Ihnen mittlerweile aufgefallen sein, daß unter meinem frohen, glückseligen und munteren Gehabe ein düsteres ›Aber‹ lauert. Eine winziger Störfaktor, wie ein klitzekleiner Brocken roher Leber, der in meinem Stiefel klebt. Sie, davon bin ich überzeugt, sagen sich sicherlich: ›In Mister Croups Brust ist nicht alles zum Besten bestellt. Ich werde ihn dazu bringen, sich mir zu eröffnen.‹«