Dies ließ sich Mr. Vandemar durch den Kopf gehen, während er die runde Eisentür zwischen dem Abwasserkanal und dem nächsten Siel mit roher Gewalt öffnete und hindurchkletterte. Anschließend zog er den Einkaufswagen mit der Leiche des Marquis de Carabas durch die Tür. Und dann sagte er, da er sich mehr oder weniger sicher war, daß er niemals auf eine derartige Idee gekommen wäre: »Nein.«
Mr. Croup ignorierte dies und fuhr fort: »… Und wenn ich dann auf Ihr Flehen hin preisgeben würde, was mich so verstimmt, müßte ich bekennen, daß die Notwendigkeit, unser Licht unter den Scheffel zu stellen, meine Seele verdrießt. Wir sollten die traurigen Überreste des ehemaligen Marquis an den höchsten Galgen Unter-Londons hängen. Und sie nicht wegwerfen wie eine gebrauchte …«
Er hielt inne und suchte nach dem passenden Vergleich.
»Ratte?« schlug Mr. Vandemar vor. »Kohlmeise? Milz?«
Mr. Croup gefiel nichts davon. »Wie auch immer«, sagte er.
Vor ihnen befand sich ein tiefer Kanal mit braunem Wasser. Auf der Wasseroberfläche trieben schmutzigweiße Schaumflocken, gebrauchte Kondome und der eine oder andere Fetzen Toilettenpapier.
Mr. Vandemar hielt den Einkaufswagen an.
Mr. Croup beugte sich hinab. Er hob den Kopf des Marquis an den Haaren hoch und zischte in sein totes Ohr: »Je schneller diese Angelegenheit erledigt ist, desto besser. Es gibt andere Zeiten und andere Orte, an denen zwei Paar Hände, die mit dem Garrottierdraht und dem Tranchiermesser umzugehen wissen, durchaus willkommen sind.«
Dann stand er auf. »Gute Nacht, mein guter Marquis. Vergessen Sie nicht, zu schreiben.«
Mr. Vandemar kippte den Einkaufswagen um, und die Leiche des Marquis rollte heraus und klatschte in das braune Wasser unter ihnen.
Und anschließend schob Mr. Vandemar den Einkaufswagen ebenfalls in den Abwasserkanal und sah zu, wie die Strömung ihn forttrug.
Dann hielt Mr. Croup seine Lampe hoch, und er schaute dort, wo sie standen, in die Höhe.
»Es macht einen richtig traurig, wenn man sich überlegt«, sagte Mr. Croup, »daß da oben auf den Straßen Menschen herumlaufen, die die Schönheit dieser Siele niemals kennenlernen werden, Mister Vandemar. Diese Backsteinkathedralen unter ihren Füßen.«
»Wahre Handwerkskunst«, stimmte Mr. Vandemar zu.
Sie kehrten dem braunen Wasser den Rücken zu und machten sich wieder auf den Weg in die Tunnel.
»Mit den Städten ist es so wie mit den Menschen, Mister Vandemar«, sagte Mr. Croup affektiert. »Der Zustand ihrer Eingeweide ist von entscheidender Bedeutung.«
Door hängte sich den Schlüssel an einem Bindfaden, den sie in einer der Taschen ihrer Lederjacke gefunden hatte, um den Hals.
»Da ist er nicht sicher«, sagte Richard. Das Mädchen schnitt eine Grimasse.
»Na ja«, sagte er. »Ist er wirklich nicht.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Also gut«, sagte sie. »Ich werde mir eine Kette dafür besorgen, wenn wir auf dem Markt sind.«
Sie liefen durch ein Labyrinth von in Kalkstein geschlagenen Höhlen und tiefen Tunnels, das auf Richard einen fast schon prähistorischen Eindruck machte.
Er lachte leise.
»Was ist so lustig?« fragte Door.
Er grinste. »Ich dachte nur gerade daran, was der Marquis wohl für ein Gesicht machen wird, wenn wir ihm erzählen, daß wir den Schlüssel ohne seine Hilfe von den Mönchen bekommen haben.«
»Ich bin sicher, ihm fällt dazu irgendein sardonischer Spruch ein«, erwiderte sie. »Und dann geht’s zurück zum Engel. Auf dem ›langen und gefährlichen Weg‹. Was immer das ist.«
Richard war kurz davor, zu sagen: »Ich bin sicher, es ist lang und es ist gefährlich«, doch er schluckte es wieder hinunter. Statt dessen bewunderte er die Höhlenmalereien an den Wänden. In Rostbraun- und Ocker- und Sienatönen waren angreifende Eber und flüchtende Gazellen dargestellt, wollige Mastodone und riesige Faultiere: Er war der Meinung, die Gemälde müßten schon Tausende von Jahren alt sein, doch dann bogen sie um eine Ecke, und dort stieß er auf im gleichen Stil gemalte Lastwagen, Hauskatzen, Autos und – merklich schlechter ausgeführt als die anderen Motive, als hätte der Künstler sie nur selten und aus weiter Entfernung gesehen – Flugzeuge.
Keines der Gemälde war sehr weit vom Boden entfernt. Er fragte sich, ob die Maler zu einer Rasse unterirdischer Neandertaler-Pygmäen gehörten. Das war immerhin ebenso wahrscheinlich wie alles andere in dieser seltsamen Welt.
»Und wo ist der nächste Markt?« fragte er.
»Keine Ahnung«, antwortete Door. »Hunter?«
Hunter glitt aus dem Schatten hervor. »Ich weiß es nicht.«
Eine kleine Gestalt schoß an ihnen vorbei in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Kurze Zeit später kamen zwei weitere winzige Gestalten in einem mörderischen Tempo auf sie zu.
Hunter ließ eine Hand vorschnellen, als sie vorbeiliefen und erwischte einen kleinen Jungen am Ohr.
»Au!« sagte er, wie kleine Jungs es tun. »Laß los! Sie hat meinen Pinsel geklaut!«
»Stimmt«, sagte eine piepsige Stimme ein Stück den Gang hinunter. »Das hat sie.«
»Hab’ ich nicht«, ertönte eine noch höhere und piepsigere Stimme noch weiter den Gang hinunter.
Hunter deutete auf die Gemälde an der Höhlenwand. »Habt ihr die gemacht?« fragte sie.
Der Kleine trug die maßlose Überheblichkeit zu Schau, die man nur bei den allergrößten Künstlern und allen neunjährigen Jungen findet. »Ja«, sagte er trotzig. »Ein paar davon.«
»Nicht schlecht«, sagte Hunter.
Der Junge funkelte sie wütend an.
»Wo ist der nächste Wandermarkt?« fragte Door.
»Belfast«, sagte der Junge. »Heute nacht.«
»Danke«, sagte Door. »Ich hoffe, du kriegst deinen Pinsel wieder. Lassen Sie ihn los, Hunter.«
Hunter ließ das Ohr des Jungen los.
Er rührte sich nicht. Er musterte sie von oben bis unten, dann zog er ein Gesicht, um auszudrücken, daß er vollkommen unbeeindruckt war. »Sie sind Hunter?« fragte er.
Sie lächelte bescheiden zu ihm herab. Er schniefte. »Sie sind die beste Leibwächterin der Unterseite?«
»So sagt man.«
Die Hand des Jungen schoß nach hinten und dann wieder vor, in einer einzigen fließenden Bewegung. Verdutzt hielt er inne und öffnete die Faust, untersuchte seine Handfläche. Dann schaute er verwirrt zu Hunter empor.
Hunter hatte ein kleines Schnappmesser mit einer gefährlichen Klinge in der Hand. Sie hielt es so hoch, daß der Junge es nicht erreichen konnte.
Er rümpfte die Nase. »Wie haben Sie das gemacht?« »Verdufte«, sagte Hunter.
Sie klappte das Messer zusammen und warf es dem Jungen zu, der ohne sich noch einmal umzuschauen den Gang hinunterlief, auf der Jagd nach seinem Pinsel.
Der Körper des Marquis de Carabas trieb mit dem Gesicht nach unten das tiefe Siel entlang gen Osten.
Die Abwasserkanäle Londons haben ihr Leben als Flüsse und Bäche begonnen, die vom Norden bis zum Süden in die Themse strömten. Dieses System hatte viele Jahre lang einigermaßen funktioniert, bis 1858 die Abwassermenge, die die Menschen und Betriebe Londons produzierten, in Verbindung mit einem ziemlich heißen Sommer ein Phänomen hervorbrachte, das damals der Große Gestank genannt wurde. Die Menschen, die London verlassen konnten, taten dies; diejenigen, die blieben, wickelten sich mit Karbol getränkte Lappen ums Gesicht und versuchten, nicht durch die Nase zu atmen.