Das Parlament war Anfang 1858 gezwungen, seine Arbeit einzustellen, und im folgenden Jahr verordnete es ein Programm zum Bau einer Kanalisation. Die Abwasserkanäle, insgesamt Tausende von Kilometern lang, wurden mit einer sanften Neigung von Westen nach Osten angelegt, und irgendwo hinter Greenwich wurden die Abwässer in die Mündung der Themse gepumpt und ins Meer gespült.
Diesen Weg nahm jetzt der Körper des toten Marquis de Carabas, von Westen nach Osten, auf den Sonnenaufgang und die Kläranlage zu.
Von einem hohen Backsteinsims aus sahen Ratten, die gerade mit Dingen beschäftigt waren, die Ratten tun, wenn kein Mensch sie beobachtet, den Körper vorübertreiben.
Die größte von ihnen, ein großes schwarzes Männchen, quiekte.
Ein kleineres braunes Weibchen quiekte zurück, dann sprang sie von dem Sims auf den Rücken des Marquis und ritt ein Stückchen auf ihm, schnüffelte an seinen Haaren und dem Mantel, kostete das Blut und beugte sich dann gefährlich weit vor, um zu inspizieren, was von dem Gesicht zu sehen war.
Sie hüpfte von dem Kopf ins schmutzige Wasser und schwamm emsig ans Ufer, wo sie die glitschigen Backsteine hinaufkletterte.
Dann eilte sie auf einem Balken zurück und gesellte sich wieder zu ihren Begleitern.
»Belfast?« fragte Richard.
Door lächelte spitzbübisch und sagte nur: »Du wirst schon sehen«, als er versuchte, ihr mehr darüber zu entlocken.
Er probierte es anders. »Woher weißt du, daß der Junge, was den Markt angeht, die Wahrheit gesagt hat?« fragte er.
»Darüber erzählt man hier unten einfach keine Lügen. Ich … glaube, bei dem Thema können wir gar nicht lügen. « Sie zögerte. »Der Markt ist etwas Besonderes.«
»Woher wußte der Junge, wo er stattfindet?«
»Jemand hat es ihm gesagt«, sagte Hunter.
Richard grübelte einen Augenblick darüber nach. »Woher wußte der es?«
»Jemand hat es ihm gesagt«, erklärte Door.
»Aber …« Er fragte sich, wer überhaupt die Veranstaltungsorte aussuchte, wie die Information verbreitet wurde …
Eine volltönende Frauenstimme fragte aus der Dunkelheit: »Hss. Wißt ihr, wo der nächste Markt ist?«
Sie trat ins Licht. Sie trug Silberschmuck, und ihr dunkles Haar war perfekt frisiert. Sie war sehr blaß, und ihr langes Kleid war aus pechschwarzem Samt.
Richard wußte sofort, daß er sie schon einmal gesehen hatte, aber es dauerte einen Moment, bis ihm wieder einfiel, wo: auf dem ersten Wandermarkt, genau: bei Harrods. Sie hatte ihm zugelächelt.
»Heute nacht«, sagte Hunter. »Belfast.«
»Danke«, sagte die Frau. Ihre Augen waren wirklich unglaublich, dachte Richard. Sie hatten die Farbe von Fingerhut. »Bis dann«, sagte sie, und sie schaute Richard an, als sie das sagte. Dann wandte sie schüchtern den Blick ab.
Sie trat in den Schatten, und weg war sie.
»Wer war das?« fragte Richard.
»Sie nennen sich Velvets«, sagte Door. »Am Tage schlafen sie hier unten, und nachts gehen sie auf der Oberseite spazieren.«
»Sind sie gefährlich?« fragte Richard.
»Jeder ist gefährlich«, erwiderte Hunter.
»Hört mal«, sagte Richard. »Um nochmal auf den Markt zurückzukommen. Wer entscheidet, wo er abgehalten wird und wann? Und wie erfahren die ersten davon? «
Hunter zuckte mit den Schultern.
»Door?« fragte er.
»Darüber habe ich nie nachgedacht.«
Sie bogen um eine Ecke.
Door hielt ihre Lampe hoch. »Gar nicht schlecht«, sagte sie. »Und dazu noch schnell«, sagte Hunter. Sie berührte das Gemälde an der Felswand mit der Fingerspitze. Die Farbe war noch feucht.
Es war ein Gemälde von Hunter und Door und Richard. Es war nicht besonders schmeichelhaft.
Die schwarze Ratte betrat ehrerbietig den Bau der Goldenen, den Kopf gesenkt und die Ohren angelegt.
Fiepend und keckernd schob sie sich vorwärts.
Die Goldenen hatten ihren Bau in einem Knochenhaufen errichtet. Dieser Knochenhaufen hatte einmal einem wolligen Mammut gehört, damals, in den kalten Zeiten, als diese großen, behaarten Tiere über die verschneite Tundra im Süden Englands spazierten, als ob, fanden die Goldenen, sie ihnen allein gehörte.
Dieser spezielle Mammut jedenfalls war von den Goldenen ziemlich gründlich und endgültig eines Besseren belehrt worden.
Die schwarze Ratte verbeugte sich am Fuße des Knochenhaufens. Dann legte sie sich mit dargebotener Kehle auf den Rücken, schloß die Augen und wartete.
Nach einer Weile teilte ihr ein Quieken von oben mit, daß sie sich wieder umdrehen konnte.
Einer der Goldenen krabbelte aus dem Mammutschädel oben auf dem Knochenhaufen. Er lief den uralten elfenbeinernen Stoßzahn entlang – eine Ratte mit goldenem Fell und kupferfarbenen Augen, so groß wie eine große Hauskatze.
Die schwarze Ratte sprach. Der Goldene dachte kurz nach und quiekte einen Befehl. Die schwarze Ratte rollte sich auf den Rücken und bot wieder einen Augenblick lang ihre Kehle dar. Dann ein Wuseln und Zappeln, und schon war sie unterwegs.
Natürlich hatten auch schon vor dem Großen Gestank Sielmenschen in den elisabethanischen Abwasserkanälen gewohnt, in den Abwasserkanälen der Restauration, in den Regency-Abwasserkanälen, während mehr und mehr Wasserwege Londons in Rohre und überdachte Gänge gezwängt wurden, während die wachsende Bevölkerung immer mehr Schmutz, mehr Müll, mehr Abwässer produzierte; doch erst nach dem Großen Gestank, nach dem großen viktorianischen Kanalisationsbauprogramm, begannen sie wirklich eine Rolle zu spielen.
Man fand sie überall an den Abwässerkanälen, doch ihr Zuhause hatten sie in einigen der kirchenähnlichen Backsteingruften im Osten, dort, wo viele schaumgekrönte Gewässer zusammenflossen. Dort saßen sie dann, Angelruten und Netze und selbst gebastelte Haken neben sich, und beobachteten die braune Wasseroberfläche.
Die Sachen, die sie trugen – braune und grüne Sachen – , waren mit einer dicken Schicht von etwas bedeckt, das Schimmel gewesen sein mochte oder irgendein petrochemischer Schlamm oder, was durchaus denkbar gewesen wäre, etwas viel Schlimmeres. Sie trugen ihr Haar lang und verfilzt. Sie rochen mehr oder weniger so, wie man es sich vorstellt.
Alte Sturmlaternen hingen überall im Tunnel. Niemand wußte, was die Sielmenschen als Brennstoff benutzten, aber ihre Laternen brannten mit einer ziemlich abscheulichen blaugrünen Flamme.
Wie die Sielmenschen sich untereinander verständigten, war nicht bekannt. Bei ihren seltenen Kontakten mit der Außenwelt bedienten sie sich einer Art Gebärdensprache. Sie lebten in einer Welt des Gurgelns und Tröpfelns, die Männer, die Frauen und die stillen kleinen Sielkinder.
Dunnikin entdeckte etwas im Wasser. Er war der Anführer der Sielmenschen, der Weiseste und Älteste. Er kannte die Siele besser als ihre Erbauer. Dunnikin griff nach einem langen Garnelennetz; eine geübte Handbewegung, und er fischte ein ziemlich mitgenommenes Mobiltelefon aus dem Wasser. Er ging hinüber zu einem kleinen Haufen Müll in der Ecke und legte das Telefon zum Rest des Fangs. Die heutige Ausbeute bestand bisher aus: zwei nicht zusammenpassenden Handschuhen, einem Schuh, einem Katzenschädel, einer Ausgabe von Fiesta, einem aufgeweichten Päckchen Zigaretten, einer Beinprothese, einem toten Cockerspaniel, einem Geweih (präpariert) und der unteren Hälfte eines Kinderwagens.
Es war kein guter Tag gewesen. Und heute war Marktnacht. Dunnikin behielt das Wasser im Auge. Man konnte nie wissen, was noch kommen würde.
Old Bailey hängte seine Wäsche zum Trocknen auf. Sie flatterte und wehte im Wind oben auf dem Centre Point. Vom Centre Point an sich hielt Old Bailey nicht viel, aber, wie er oft den Vögeln sagte, der Blick von oben war unvergleichlich. Der Wind riß Federn von Old Baileys Mantel und blies sie fort über London. Es machte ihm nichts aus. Wie er ebenfalls oft seinen Vögeln sagte: Wo die herkamen, gab es noch mehr. Eine große schwarze Ratte krabbelte durch eine zerborstene Lüftungsklappe, schaute sich um und kam dann zu Old Baileys von Vögeln besudeltem Zelt herüber. Sie lief am Zelt hoch und Old Baileys Wäscheleine entlang. Sie quiekte ihn aufgeregt an.