Hunter nahm Richard die Tüte mit dem Essen aus der Hand. »Zeit, zurückzugehen«, sagte sie.
»Also«, sagte Richard. »Wenn wir zu dem Sie-wissenschon gehen, könnte sie uns vielleicht helfen.«
Hunter sah Richard an. Wenn sie ihn einen Tag vorher so angesehen hätte, hätte er das Thema fallenlassen. Aber das war gestern. »Mal sehen, was Door davon hält«, sagte Richard. »Irgendwelche Anzeichen für den Marquis?«
»Noch nicht«, sagte Hunter.
Old Bailey hatte den Leichnam, der an seinem Kinderwagenunterteil festgebunden war wie das Gespenst von Guy Fawkes, die Planke hinabgezerrt. Er zog ihn über die Tower Bridge und vorbei am Tower of London. Er ging weiter zur Haltestelle Tower Hill und machte kurz davor Halt, neben einem großen grauen Mauervorsprung. Es war zwar kein Dach, dachte Old Bailey, aber es würde reichen.
Es war einer der letzten Überreste der London Wall. Der Überlieferung nach hatte der römische Kaiser Konstantin der Große die Stadtmauer im dritten Jahrhundert n. Chr. bauen lassen, auf Verlangen seiner Mutter (ihr Name war Helena), die aus London stammte und die Nase voll davon hatte, sich ständig von Potentaten und Stadtoberhäuptern aus dem ganzen Reich so nebenbei anhören zu müssen, wie dick die Stadtmauern dort, wo sie herkamen, seien und wie denn die Stadtmauern bei ihr aussehen würden.
Als die Mauer fertig war, umschloß sie die ganze Stadt; sie war neun Meter hoch und zweieinhalb Meter dick, und sie war zweifelsfrei eine Mauer. Jetzt war sie nicht mehr neun Meter hoch, denn die Erdoberfläche hatte sich seit den Zeiten von Konstantins Mutter gehoben, und sie umschloß die Stadt nicht mehr ganz. Aber es war immer noch ein imposantes Stück Mauer.
Old Bailey nickte heftig vor sich hin. Er befestigte ein Seil an dem Kinderwagenunterteil und kletterte die Mauer hoch; dann, begleitet von Grunzen und »Au-weia«-Gestöhn, zog er den Marquis hoch bis zum oberen Ende der Mauer.
Er band den Körper von den Kinderwagenrädern los und legte ihn sanft auf den Rücken, die Arme zu beiden Seiten lagernd. Aus ein paar Wunden quoll noch Flüssigkeit. Er war sehr tot.
»Du Dummkopf«, flüsterte Old Bailey. »Wieso mußtest du dich bloß umbringen lassen?«
Der Mond schien hell und klein und hoch in der kalten Nacht, und herbstliche Sternbilder sprenkelten den blauschwarzen Himmel wie der Staub gemahlener Diamanten. Eine Nachtigall flatterte auf die Mauer, untersuchte den Leichnam des Marquis de Carabas und zwitscherte lieblich. »Halt den Schnabel«, sagte Old Bailey barsch. »Ihr Vögel duftet, verdammt noch mal, auch nicht gerade nach Rosen.«
Sie zwitscherte ihm eine melodische Nachtigallen-Obszönität zu und flog fort in die Nacht.
Old Bailey griff in seine Tasche und holte die schwarze Ratte heraus, die inzwischen eingeschlafen war. Sie schaute sich verschlafen um und gähnte dann, wobei sie ihre ungeheuer lange Rattenzunge entblößte. »Wenn’s nach mir ginge«, sagte Old Bailey zu der schwarzen Ratte, »wäre ich froh, wenn ich nie wieder etwas riechen müßte.«
Er setzte sie auf die Steine der London Wall, und sie quiekte ihn an. Old Bailey seufzte. Behutsam nahm er das Silberkästchen aus seiner Tasche, und aus einer Innentasche holte er die Röstgabel.
Er stellte das Silberkästchen auf de Carabas’ Brust.
Dann streckte er nervös die Röstgabel aus und öffnete damit den Deckel des Kästchens. Drinnen lag ein Entenei, bläßlich blaugrün im Mondlicht. Old Bailey hob die Röstgabel, kniff die Augen zusammen und zerschlug das Ei.
Es machte »pop«, als es implodierte.
Für einen Moment herrschte eine große Ruhe; dann kam der Wind auf. Er hatte keine Richtung, sondern schien irgendwie von überall herzukommen, ein plötzlicher Wirbelsturm. Herbstlaub, Zeitungsseiten, der ganze Bodensatz der Stadt wurde von der Erde hochgefegt und durch die Luft geblasen.
Der Wind streifte die Oberfläche der Themse und trug das kalte Wasser als feines, fliegendes Spray in die Luft.
Es war ein wütender Wind, ein gefährlicher, irrer Wind. Die Standbetreiber an Deck der Belfast verfluchten ihn und hielten ihre Besitztümer fest, damit sie nicht weggeweht wurden.
Und dann, als es schien, der Wind würde so stark, daß er die ganze Welt fortwehte und die Sterne davonbliese und die Menschen durch die Luft wirbelte wie vertrocknetes Herbstlaub –
In dem Moment –
– war er vorbei, und das Laub und die Zeitungen und die Plastiktüten segelten wieder auf die Erde und die Straße und aufs Wasser zurück.
Hoch oben auf dem Überrest der London Wall war die Stille, die auf den Wind folgte, ebenso laut, wie der Wind es gewesen war.
Sie wurde durch ein Husten durchbrochen; ein grauenhaftes, nasses Husten.
Dann hörte man, wie sich jemand mühsam umdrehte, und dann, wie sich jemand furchtbar und widerlich übergab.
Der Marquis de Carabas erbrach Sielwasser über den Rand der London Wall, das die grauen Steine mit brauner Fäulnis befleckte. Er brauchte lange dafür, das Wasser aus seinem Körper loszuwerden.
Und dann sagte er, mit heiserer Stimme, die kaum mehr war als ein schmirgelndes Flüstern: »Ich glaube, man hat mir die Kehle durchgeschnitten. Haben Sie etwas, womit man sie verbinden kann?«
Old Bailey suchte in seinen Taschen herum und zog eine schmuddelige Stoffbahn hervor. Die reichte er dem Marquis, der sie sich ein paarmal um den Hals wickelte und dann fest verknotete. Old Bailey fühlte sich unpassenderweise an die hochgeschnürten Beau-Brummel-Kragen der Regency-Dandys erinnert.
»Was zu trinken?« krächzte der Marquis.
Old Bailey zog seinen Flachmann heraus, schraubte den Deckel ab und reichte ihn dem Marquis, der einen Mundvoll herunterstürzte, dann vor Schmerz zusammenzuckte und schwach hustete.
Die schwarze Ratte, die die gesamte Szene mit Interesse beobachtet hatte, begann nun den Mauerrest hinunterzuklettern. Sie würde es den Goldenen mitteilen: Alle Gefallen waren nun vergolten, alle Schulden bezahlt.
Der Marquis gab Old Bailey seinen Flachmann zurück. Dieser steckte ihn weg. »Wie fühlen Sie sich?« fragte er.
»Mir ging’s schon mal besser.«
Der Marquis setzte sich zitternd auf. Seine Nase lief, und seine Augen flackerten hin und her. Er starrte hinaus in die Welt, als hätte er sie nie zuvor gesehen.
»Wieso mußten Sie sich bloß umbringen lassen, das wüßt’ ich gern«, fragte Old Bailey.
»Informationen«, flüsterte der Marquis. »Die Menschen erzählen einem sehr viel mehr, wenn sie wissen, daß man gleich tot sein wird. Und wenn man dann tot ist, reden sie immer noch weiter.«
»Dann haben Sie herausgefunden, was Sie wissen wollten?«
Der Marquis betastete die Wunden an seinen Armen und Beinen. »Aber ja. Größtenteils. Jetzt habe ich mehr als nur eine Ahnung, worum es bei dieser ganzen Sache eigentlich geht.« Dann schloß er wieder die Augen, schlang die Arme um sich und schaukelte langsam vor und zurück.
»Wie ist es denn eigentlich?« fragte Old Bailey. »Tot zu sein?«
Der Marquis seufzte. Und dann grinste er schwach, und sein altes Ich schien ein wenig durch, als er antwortete: »Leben Sie lange genug, Old Bailey, dann können Sie es selbst herausfinden.«
Old Bailey wirkte enttäuscht. »Mistkerl. Nach allem, was ich getan habe, um Sie von dem schrecklichen Ort zurückzuholen, von dem es kein Zurück gibt. Na ja, normalerweise kein Zurück gibt.«
Der Marquis de Carabas blickte zu ihm auf. Seine Augen waren weiß im Mondlicht. Und er flüsterte: »Wie es ist, tot zu sein? Es ist sehr kalt, mein Freund. Sehr dunkel und sehr kalt.«
Door hielt die Kette hoch. Daran baumelte der Schlüssel rotorange im Licht von Hammersmiths Kohlenbecken.
»Gute Arbeit, Hammersmith.«
»Danke, Lady.«
Sie hängte sich die Kette um den Hals und verbarg den Schlüssel in ihren Kleiderschichten. »Was möchtest du dafür haben?«