»Wissen Sie, wer die Rattensprecher sind?«
»Natürlich.«
»Es gab ein Rattensprechermädchen namens Anaesthesia. Sie. Nun ja, wir haben uns ein bißchen angefreundet, und sie sollte mich zum Markt führen. Und dann ist sie mir abhanden gekommen. Auf der Night’s Bridge. Ich frage mich immer noch, was ihr zugestoßen sein mag.«
Sie lächelte ihn mitfühlend an. »Mein Volk kennt Geschichten darüber. Ein paar davon sind vielleicht sogar wahr.«
»Sie müssen mir davon erzählen«, sagte er. Es war kalt. Sein Atem dampfte in der kühlen Luft.
»Eines Tages«, sagte sie. Ihr Atem dampfte nicht. »Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie mich mitnehmen.«
Door und Hunter bogen vor ihnen um die Kurve und waren nicht mehr zu sehen.
»Wissen Sie«, sagte Richard, »die anderen sind schon ein bißchen weit voraus. Wir sollten uns lieber beeilen.«
»Laß sie gehen«, sagte sie sanft. »Wir werden sie schon wieder einholen.«
Es war, dachte Richard, auf merkwürdige Art und Weise so, als sei er ein Teenager und ginge mit einem Mädchen ins Kino. Oder vielmehr wie der Heimweg danach: Stehenbleiben an Bushaltestellen oder neben Mauern, um einen Kuß zu erhaschen, ein hastiges Betasten von Haut und ein Verknäueln von Zungen, und dann schnell weiter, um die Kumpel und ihre Freundinnen einzuholen …
Lamia fuhr mit einem kalten Finger über seine Wange.
»Du bist so warm«, sagte sie bewundernd. »Es muß wunderbar sein, soviel Wärme zu haben.«
Richard versuchte, ein bescheidenes Gesicht zu machen. »Darüber denke ich eigentlich nicht besonders viel nach«, gab er zu.
Ganz weit oben hörte er das metallische Knallen der Aufzugtür.
Lamia schaute flehend und freundlich zu ihm auf. »Würdest du mir etwas von deiner Hitze abgeben, Richard?« fragte sie. »Mir ist so kalt.«
Richard fragte sich, ob er sie küssen sollte. »Was? Ich …«
Sie sah enttäuscht aus. »Gefalle ich dir nicht?« fragte sie. Er hoffte inständig, daß er ihre Gefühle nicht irgendwie verletzt hatte.
»Natürlich gefällst du mir«, hörte er seine Stimme sagen. »Du bist sehr nett.«
»Und du brauchst doch all deine Hitze gar nicht, oder?« Das klang logisch.
»Ich schätze, nein …«
»Und du hast gesagt, du würdest mich dafür bezahlen, daß ich euch führe. Und das möchte ich als Lohn. Wärme. Kann ich welche haben?«
Alles, was sie wollte. Alles. Das Geißblatt und die Maiglöckchen umschlossen ihn, und seine Augen sahen nichts als ihre bleiche Haut und ihre dunklen, blumigen Pflaumenlippen und ihr pechschwarzes Haar. Er nickte.
Irgendwo in seinem Innern schrie etwas, doch was immer das war, es konnte warten.
Sie streckte ihre Hände nach seinem Gesicht aus und zog es sanft zu sich herab. Dann küßte sie ihn, lange und schwerblütig. Im ersten Moment war die Kälte ihrer Lippen und ihrer Zunge ein Schock für ihn, und dann entspannte er sich. Nach einer Weile zog sie sich zurück.
Er spürte das Eis auf seinen Lippen. Er strauchelte rückwärts gegen die Wand. Er versuchte zu blinzeln, aber seine Augen fühlten sich an, als seien sie offen festgefroren.
Sie sah zu ihm auf und lächelte voll Wonne. Ihre Haut war rosig, und ihre Lippen waren scharlachrot. Ihr Atem dampfte in der kalten Luft. Sie leckte sich die roten Lippen mit einer warmen rosa Zunge. Seine Welt verfinsterte sich langsam. Er glaubte, einen dunklen Umriß am Rande seines Blickfeldes auszumachen.
»Mehr«, sagte sie. Und sie streckte die Arme nach ihm aus.
Er sah zu, wie die Velvet Richard zum ersten Kuß an sich zog, sah zu, wie Rauhreif und Frost sich auf seiner Haut ausbreiteten. Er sah zu, wie sie sich glücklich zurücklehnte. Und dann trat er hinter sie, und als sie sich zu Richard neigte, um das, was sie begonnen hatte, zu beenden, streckte er die Hand aus, packte sie fest am Hals und hob sie hoch.
»Gib es zurück«, krächzte er ihr ins Ohr. »Gib ihm sein Leben zurück.« Die Velvet reagierte wie ein Kätzchen, das man in eine Badewanne geworfen hat: Sie wand sich und fauchte und spuckte und kratzte, aber vergebens. Die Hand um ihre Kehle war wie ein Schraubstock.
»Sie können mich nicht dazu zwingen«, sagte sie in einem entschieden unmusikalischen Tonfall.
Er verstärkte den Druck. »Gib ihm sein Leben zurück«, erklärte er heiser, »oder ich breche dir das Genick.«
Sie zuckte zusammen. Er schob sie auf Richard zu.
Sie nahm Richards Hand und atmete ihm in Nase und Mund. Dampf drang aus ihrem Mund und tröpfelte in den seinen. Das Eis auf seiner Haut begann zu tauen, der Rauhreif auf seinem Haar zu verschwinden.
Er drückte noch einmal ihren Hals. »Alles, Lamia.«
Da fauchte sie äußerst widerwillig und öffnete noch einmal den Mund. Ein letztes Dampfwölkchen schwebte von ihrem Mund in den seinen, und dann war es fort.
Richard blinzelte.
»Was hast du mit mir angestellt?« fragte Richard.
»Sie war dabei, Ihr Leben zu trinken«, sagte der Marquis de Carabas in einem heiseren Flüstern. »Sich Ihre Wärme zu nehmen. Sie in so ein kaltes Etwas zu verwandeln, wie sie selbst eins ist …«
Lamia verzog das Gesicht wie ein kleines Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hat. Ihre violetten Augen blitzten. »Ich brauche es nötiger als er!« jammerte sie.
»Ich hab’ gedacht, du magst mich«, wandte Richard dümmlich ein.
Der Marquis hob Lamia mit einer Hand hoch und hielt ihr Gesicht dicht vor das seine. »Wenn du ihm noch einmal zu nahe kommst, du oder irgendein anderes der Velvet-Kinder, besuche ich tagsüber, wenn ihr schlaft, eure Höhle und brenne sie nieder. Verstanden?«
Sie nickte.
Er ließ sie los, und sie fiel zu Boden. Dann rappelte sie sich zu voller Größe auf, was nicht besonders groß war, warf den Kopf zurück und spuckte dem Marquis mit Wucht ins Gesicht.
Lamia raffte das Vorderteil ihres schwarzen Samtkleides, lief die Schräge hinauf und war verschwunden.
Eiskalter schwarzer Speichel rann dem Marquis die Wange hinab. Er wischte ihn weg.
»Sie hätte mich umgebracht«, sagte Richard.
»Nicht sofort«, erwiderte der Marquis. »Aber nachdem sie Ihr ganzes Leben vertilgt gehabt hätte, wären Sie gestorben.«
Richard starrte den Marquis an. Er sah mitgenommen aus. Sein Mantel war weg: Statt dessen war eine alte Decke um seine Schultern gewickelt, wie ein Poncho, und darunter hatte er sich irgend etwas – Richard konnte nicht erkennen was – umgeschnallt. Er war barfuß. Aus irgendeinem Grund, den Richard als bizarren Modetick interpretierte, hatte er seine Kehle von oben bis unten mit einem ausgeblichenen Lappen umwickelt.
»Wir haben Sie gesucht«, sagte Richard.
»Und jetzt haben Sie mich gefunden«, krächzte der Marquis trocken.
»Wir hatten Sie auf dem Markt erwartet.«
»Ja. Nun. Einige Leute hielten mich für tot. Ich war gezwungen, unterzutauchen.«
»Wieso … wieso hielten einige Leute Sie für tot?«
Der Marquis sah Richard an, mit Augen, die zu viel gesehen hatten und zu weit gegangen waren. »Weil sie mich getötet haben«, sagte er. »Kommen Sie, die anderen können nicht allzu weit sein.«
Richard blickte zur anderen Seite des Schachts hinüber. Dort sah er Door und Hunter, eine Ebene weiter unten. Sie schauten sich um – nach ihm, nahm er an. Er rief, brüllte und winkte, doch es schallte nicht weit genug.
Der Marquis legte eine Hand auf Richards Arm. »Sehen Sie mal«, sagte er. Er deutete auf die Ebene unter Door und Hunter. Etwas bewegte sich dort. Richard kniff die Augen zusammen: Er konnte im Schatten zwei Gestalten erkennen. »Croup und Vandemar«, sagte der Marquis. »Es ist eine Falle.«
»Was sollen wir tun?«
»Laufen Sie!« sagte der Marquis. »Warnen Sie sie. Ich kann nicht laufen … Los, verdammt noch mal!«
Und Richard lief. Er lief, so schnell er konnte, so sehr er konnte, die geneigte Steinstraße unter der Welt entlang. Er verspürte einen plötzlichen bohrenden Schmerz in der Brust: Seitenstiche. Und er zwang sich weiter, und er lief immer noch.