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»Aber Door hat Ihnen vertraut. Ich habe Ihnen vertraut.«

»Genug.«

Langsam begann der Schmerz nachzulassen, zu einem dumpfen Nachhall in seiner Schulter und seiner Hüfte und seinem Knie abzuflauen. »Für wen arbeiten Sie? Wo bringen sie sie hin? Wer steckt hinter dem Ganzen?«

»Sagen Sie es ihm, Hunter«, krächzte der Marquis de Carabas.

Er hatte eine Armbrust auf Hunter gerichtet. Seine nackten Füße standen fest auf der Erde, sein Gesichtsausdruck war unerbittlich.

»Ich hab’ mich schon gefragt, ob Sie wirklich so tot sind, wie Croup und Vandemar es dargestellt haben«, sagte Hunter. »Ich hatte Sie eigentlich als jemanden eingeschätzt, der schwer zu töten ist.«

Ironisch neigte er den Kopf. »Ich Sie auch, verehrte Lady. Aber ein Armbrustgeschoß in der Kehle und ein mehrere tausend Meter tiefer Sturz könnten mich Lügen strafen, nicht wahr? Legen Sie den Speer hin und treten Sie zurück.« Sanft, liebevoll legte sie den Speer auf den Boden. Dann richtete sie sich auf und trat zurück.

»Sie können es ihm ebensogut sagen, Hunter«, forderte sie der Marquis auf. »Ich weiß es bereits. Ich habe es auf die harte Tour herausgefunden. Sagen Sie ihm, wer hinter all dem steckt.«

»Islington«, sagte sie.

Richard schüttelte den Kopf, als wolle er eine Fliege verscheuchen. »Das kann nicht sein«, sagte er. »Ich habe doch Islington selbst kennengelernt. Er ist ein Engel.« Und dann fragte er beinahe verzweifelt: »Warum?«

Der Marquis hatte Hunter nicht aus den Augen gelassen, und auch die Armbrustspitze war weiterhin unbeweglich auf sie gerichtet. »Ich wünschte, ich wüßte es. Aber Islington befindet sich am Fuße der Down Street, und am Fuße dieser Schweinerei. Und zwischen uns und Islington befinden sich das Labyrinth und das Ungeheuer. Richard, nehmen Sie den Speer. Hunter, Sie gehen vor mir her, bitte.«

Richard hob den Speer auf, und dann zog er sich schwerfällig daran hoch, bis er stand. »Sie wollen, daß sie mit uns kommt?« fragte er verblüfft.

»Hätten Sie sie lieber hinter uns?« entgegnete der Marquis trocken.

Richard schüttelte den Kopf.

Und sie gingen hinab.

Kapitel Sechzehn

Stundenlang gingen sie schweigend die gewundene Steinstraße hinab. Richard hatte immer noch Schmerzen, er humpelte, und in ihm rumorte es seltsam, geistig wie körperlich: Das Gefühl, geschlagen und verraten worden zu sein, quälte ihn, hinzu kam noch die Tatsache, daß er beinahe sein Leben an Lamia verloren hätte, die Nachwirkungen von dem, was Mr. Vandemar ihm zugefügt und was er oben auf der Planke erlebt hatte, so daß er sich alles in allem furchtbar zerschlagen fühlte. Doch was es noch schlimmer machte: Er war sich ziemlich sicher, daß all seine Erlebnisse des letzten Tages verglichen mit dem, was der Marquis durchgemacht haben mochte, zu etwas ziemlich Kleinem und Unbedeutendem verblaßten. Daher sagte er nichts.

Der Marquis war still; denn jedes Wort, das er hervorbrachte, verursachte ihm Halsschmerzen. Er begnügte sich damit, seine Kehle heilen zu lassen und sich auf Hunter zu konzentrieren. Wenn er seine Aufmerksamkeit nur einen Augenblick erlahmen ließe, das wußte er, würde sie es sofort merken, und dann wäre sie auf und davon, oder sie würde sich ihnen entgegenstellen. Daher sagte er nichts.

Hunter ging ein kleines Stück voraus. Auch sie sagte nichts. Dann erreichten sie das untere Ende der Down Street. Die Straße endete in einem monumentalen Torbogen – aus gigantischen grob behauenen Steinblöcken.

Dieses Tor haben Riesen gebaut, dachte Richard, obwohl er nicht hätte sagen können, woher er das wußte.

Das Tor selbst war schon lange verrostet und zerfallen. Seine Überreste lagen zu ihren Füßen im Schlamm und hingen nutzlos an einem verrosteten Scharnier an der Seite des Torbogens. Das Scharnier war größer als Richard.

Der Marquis bedeutete Hunter, stehenzubleiben. Er befeuchtete seine Lippen und sagte: »Dieses Tor markiert das Ende der Down Street und den Beginn des Labyrinths. Und jenseits des Labyrinths wartet der Engel Islington. Und im Labyrinth befindet sich das Ungeheuer. «

»Ich versteh’ das immer noch nicht«, sagte Richard. »Islington. Ich habe ihn doch kennengelernt. Es. Ihn. Er ist ein Engel. Ich meine … ein richtiger Engel.«

Der Marquis lächelte humorlos. »Wenn Engel bösartig werden, Richard, dann werden sie schlimmer als jeder sonst. Sie wissen doch, auch Luzifer war einst ein Engel.«

Hunter starrte Richard mit nußbraunen Augen an. »Der Ort, an dem Sie waren, ist Islingtons Zitadelle und sein Gefängnis. Er kann ihn nicht verlassen.«

Der Marquis sah sie an. »Ich schätze, das Labyrinth und das Ungeheuer dienen dazu, Besucher abzuschrecken.«

Sie neigte den Kopf. »Das ist anzunehmen.«

Plötzlich brüllte Richard den Marquis an, und all seine Wut und Ohnmacht und Enttäuschung machte sich in einer zornigen Explosion Luft: »Wieso reden Sie überhaupt mit ihr? Wieso ist sie noch bei uns? Sie hat uns die ganze Zeit betrogen. Sie ist eine Verräterin – sie wollte uns glauben machen, Sie seien der Verräter!«

»Und ich habe Ihnen das Leben gerettet, Richard Mayhew«, sagte Hunter leise. »Viele Male. Auf der Brücke. Vor dem Wesen an der U-Bahn-Haltestelle. Auf dem Brett dort oben.«

Sie sah ihm in die Augen, und es war Richard, der den Blick abwandte.

Etwas hallte durch die Tunneclass="underline" ein Bellen oder ein Brüllen. Die Haare auf Richards Nacken stellten sich auf. Es war weit entfernt, aber das war auch das einzige daran, was ihn ein wenig beruhigte. Er kannte dieses Geräusch. Er hatte es in seinen Träumen gehört. Es klang weder wie ein Stier noch wie ein Keiler. Es klang wie ein Löwe. Es klang wie ein gewaltiger Drache.

»Das Labyrinth ist eine der ältesten Stätten Unter-Londons«, erklärte der Marquis. »Noch bevor König Lud auf den Themse-Sümpfen ein Dorf gründete, gab es hier ein Labyrinth.«

»Allerdings kein Ungeheuer«, sagte Richard.

»Damals noch nicht.«

Richard zögerte. Das entfernte Brüllen setzte wieder ein. »Ich … ich glaube, ich habe von dem Ungeheuer geträumt«, sagte er.

Der Marquis zog eine Augenbraue hoch. »Was für Träume?«

»Alpträume«, sagte Richard.

Der Marquis dachte darüber nach, und seine Augen flackerten. Und dann sagte er. »Hören Sie zu, Richard. Hunter nehme ich mit. Wenn Sie allerdings lieber hier warten wollen, nun ja, dann würde Sie trotzdem niemand als feig bezeichnen können.«

Richard schüttelte den Kopf. Manchmal kann man einfach nichts tun. »Ich kehre nicht um. Nicht jetzt. Sie haben Door.«

»Gut«, sagte der Marquis. »Nun denn. Wollen wir gehen? « Hunters perfekte Karamellippen verzogen sich zu einem Hohnlächeln. »Sie müssen verrückt sein, wenn Sie da hineingehen«, sagte sie. »Ohne den Talisman des Engels würden Sie niemals den Weg finden. Niemals an dem Keiler vorbeikommen.«

Der Marquis steckte seine Hand unter seine Poncho-Decke und holte die kleine Obsidian-Statue hervor, die er aus dem Arbeitszimmer von Doors Vater mitgenommen hatte. »Meinen Sie so einen?« fragte er.

Und dann stellte der Marquis fest, daß vieles, was er in den vergangenen Wochen durchgemacht hatte, durch Hunters Gesichtsausdruck wieder wettgemacht wurde. Sie gingen durch das Tor und hinein ins Labyrinth.

Doors Arme waren hinter ihrem Rücken gefesselt, und Mr. Vandemar ging hinter ihr, eine riesige Hand auf ihrer Schulter, und schob sie voran. Mr. Croup huschte voraus, den Obsidian-Talisman in der Hand, den er ihr oben in der Luft weggenommen hatte, und er blickte nervös von einer Seite zur anderen, wie ein Wiesel auf dem Weg zu einem Hühnerstallüberfall.

Das Labyrinth selbst war der reinste Irrsinn. Es war aus verlorengegangenen Fragmenten Ober-Londons gebaut: Gassen und Straßen und Korridore und Siele, die im Laufe der Jahrtausende durchs Netz gerutscht und in die Welt der Verlorenheit und des Vergessenseins übergegangen waren.