Выбрать главу

Sie stapften über Kopfsteinpflaster und durch Schlamm und Mist (Pferdemist und anderen) und über verfaulende Holzbretter. Der Ort veränderte sich beständig: Und jeder Weg teilte sich, führte im Kreise herum oder wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück.

Mr. Croup ließ sich von dem Talisman, dessen Zug er spürte, führen.

Sie gingen eine winzige Gasse entlang, die einst zu einem viktorianischem ›Krähenhorst‹ gehörte hatte (einem Elendsquartier, in dem zu gleichen Teilen Diebstahl und Gin, totale Verwahrlosung und billiger Sex herrschten), und sie hörten es irgendwo in der Nähe schnaufen und schnauben. Und dann brüllte es.

Mr. Croup zögerte. Am Ende der Gasse blieb er stehen und schaute sich mit zusammengekniffenen Augen um, bevor er sie ein paar Stufen in einen langen steinernen Tunnel hinunterführte, der zur Zeit der Tempelritter über die Sümpfe hinweggeführt hatte.

Door sagte: »Sie haben Angst, nicht wahr?«

Er warf ihr einen wütenden Blick zu. »Hüten Sie Ihre Zunge.«

Sie lächelte, obwohl ihr gar nicht nach Lächeln zumute war. »Sie haben Angst, daß Ihr Talisman Sie nicht sicher an dem Ungeheuer vorbeibringt. Was haben Sie jetzt vor? Islington entführen? Und uns beide an denjenigen verkaufen, der am meisten bietet?«

»Ruhe«, sagte Mr. Vandemar.

Doch Mr. Croup lachte nur leise; und da wußte Door, daß der Engel Islington nicht ihr Freund war.

Sie begann zu schreien. »Hey! Ungeheuer! Hier sind wir! Hu-hu! Mister Ungeheuer!«

Mr. Vandemar versetzte ihr einen leichten Schlag an den Kopf und stieß sie gegen die Wand.

»Ruhe, hab’ ich gesagt«, erklärte er milde.

Sie schmeckte Blut und spuckte scharlachrot in den Schlamm. Dann öffnete sie den Mund und fing wieder an zu schreien. Mr. Vandemar, der das vorausgesehen hatte, hatte bereits ein Taschentuch aus seiner Tasche gezogen und stopfte es ihr in den Mund. Sie versuchte ihm dabei auf den Daumen zu beißen, doch das machte keinen nennenswerten Eindruck auf ihn.

»Jetzt sind Sie aber ruhig«, sagte er.

Mr. Vandemar war sehr stolz auf sein Taschentuch, das grün und braun und schwarz gesprenkelt war und ursprünglich einem ziemlich übergewichtigen Schnupftabakhändler aus den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts gehört hatte, der an einem Gehirnschlag gestorben und mit seinem Taschentuch in der Tasche beerdigt worden war. Mr. Vandemar fand immer noch dann und wann Reste des Schnupftabakhändlers darin, doch er war der Meinung, daß es trotz alledem ein schönes Taschentuch war.

Schweigend gingen sie weiter.

In seinem Felsensaal am Ende des Labyrinths, der seine Zitadelle und sein Gefängnis war, tat der Engel Islington etwas, das er seit vielen Tausenden von Jahren nicht mehr getan hatte.

Er tat folgendes.

Er sang.

Er hatte eine schöne Stimme, melodiös und wohlklingend. Wie alle Engel besaß er ein absolutes Gehör.

Islington sang einen Song von Irving Berlin. Und er tanzte beim Singen, in langsamen und makellosen Bewegungen und Schritten, in seinem Großen Saal voller Kerzen.

»Heaven«, sang der Engel, »I’m in Heaven,

And my heart beats so that I can hardly speak,

And I seem to find the happiness I seek

When we’re out together, dancing cheek to cheek.

Heaven, I’m in Heaven,

And the cares that hung around me in the week

Seem to vanish like a gambler’s lucky streak …«

Als er die schwarze Tür in dem dazugehörigen Gemach erreichte, die Tür aus Feuerstein und angelaufenem Silber, hörte er auf zu tanzen. Er fuhr mit den Fingern langsam über die Tür, preßte die Wange an ihre kalte Oberfläche.

Und er sang weiter, leiser jetzt.

»Heaven …

I’m in Heaven …

I’m in Heaven …

I’m in Heaven …«

Und dann lächelte er, sanft und liebenswürdig, und das Lächeln des Engels Islington war schrecklich anzusehen.

Er sagte die Worte, wiederholte sie immer wieder, so daß die Silben in der kerzenerleuchteten Dunkelheit seines Gemachs in der Luft hingen.

»Ich bin im Himmel«, sagte er.

Richard schrieb einen weiteren Eintrag in sein geistiges Tagebuch. Liebes Tagebuch, dachte er. Heute habe ich den Gang über die Planke überlebt, den Kuß des Todes und eine Lektion über das Treten.

Im Moment bin ich in einem Labyrinth unterwegs, mit einem Irren, der von den Toten wiederauferstanden ist, und einer Leibwächterin, die in Wirklichkeit etwas ist … was auch immer das Gegenteil einer Leibwächterin sein mag. Ich habe so sehr den Boden unter den Füßen verloren, daß …

Ihm fiel kein Bild dafür ein.

Sie wateten durch nassen, morastigen Boden, einen engen Durchgang zwischen dunklen Steinwänden.

Der Marquis hielt sowohl den Talisman als auch die Armbrust in den Händen, und er ging drei Meter hinter Hunter. Richard trug Hunters Speer und eine gelbe Fakkel, die die Steinwände und den Schlamm erleuchtete. Er ging ein gutes Stück vor Hunter. Der sumpfige Boden stank, und riesige Mücken hatten begonnen, Richard in Arme, Beine und Gesicht zu stechen. Weder Hunter noch der Marquis hatten die Mücken auch nur mit einem Wort erwähnt. In Richard keimte der Verdacht, daß sie sich inzwischen völlig verirrt hatten.

Es war seiner Stimmung nicht gerade zuträglich, daß hier und da Tote im Morast lagen: ledrige, mumifizierte Körper und Skelettknochen und bleiche Leichname. Er fragte sich, wie lange sie schon dort lagen und ob sie von dem Ungeheuer oder den Mücken getötet worden waren.

Er wartete weitere fünf Minuten und elf Mückenstiche ab, und dann rief er aus: »Ich glaube, wir haben uns verirrt. Hier sind wir schon einmal durchgegangen.«

Der Marquis hielt den Talisman hoch. »Nein. Wir sind auf dem richtigen Weg«, sagte er. »Der Talisman führt uns direkt hin. Das schlaue kleine Ding.«

»Ja«, sagte Richard, den das gar nicht beeindruckte. »Sehr schlau.«

In diesem Moment trat der Marquis barfuß auf den zertrümmerten Brustkorb eines halb vergrabenen Leichnams, der ihm in die Ferse stach und ihn zum Straucheln brachte. Die kleine schwarze Statue flog durch die Luft und plumpste in den Morast. Der Marquis richtete sich wieder auf und zielte mit der Armbrust auf Hunters Rücken. In der Ferse seines rechten Fußes verspürte er eine Wärme und einen Schmerz: Er hoffte, daß der Schnitt nicht tief war. Er hatte nur noch so wenig Blut übrig, daß er weiteres kaum noch entbehren konnte.

»Richard!« rief er. »Ich habe ihn fallenlassen. Könnten Sie bitte zurückkommen?«

Richard ging mit hocherhobener Fackel zurück, in der Hoffnung, der Obsidian würde im Licht glitzern, doch er sah nichts als nassen Schlamm.

»Suchen Sie da unten«, sagte der Marquis.

Richard stöhnte.

»Sie haben von dem Ungeheuer geträumt, Richard«, sagte der Marquis. »Wollen Sie ihm wirklich begegnen?«

Richard dachte nicht sehr lange darüber nach, dann legte er den Bronzespeer auf die Oberfläche des Morasts, steckte die Fackel in den Schlamm, so daß sie aufrecht stehenblieb und die Oberfläche des Sumpfes in ein zuckendes bernsteinfarbenes Licht tauchte, und er kniete sich in den Dreck und suchte nach der Statue.

In der Hoffnung, nicht auf irgendwelche toten Gesichter oder Gliedmaßen zu stoßen, fuhr er mit den Händen über die Oberfläche des Morasts.

»Es ist hoffnungslos. Er kann sonstwo sein.«