»Suchen Sie weiter«, sagte der Marquis.
»Ich sehe ihn!« rief Richard.
Er kämpfte sich durch den Schlamm darauf zu. Das kleine glasige Ungeheuer lag in einer Pfütze dunklen Wassers. Vielleicht hatte Richard den Schlamm aufgewühlt, als er sich näherte; für wahrscheinlicher hielt er es jedoch, daß es die pure Bosheit der Natur war. Wie auch immer, er war nur wenige Meter von der kleinen Statue entfernt, als der Morast ein Geräusch machte, das sich anhörte wie ein gigantisches Magengrummeln, und eine große Gasblase aufstieg und giftig und obszön neben dem Talisman zerplatzte, der unter der Wasseroberfläche verschwand.
Richard erreichte die Stelle, wo der Talisman gelegen hatte, stieß seine Arme tief in den Schlamm und suchte danach. Es hatte keinen Zweck. Er war fort.
»Was machen wir nun?« fragte Richard.
Der Marquis seufzte. »Kommen Sie wieder her, und dann denken wir uns etwas aus.«
Leise sagte Richard: »Zu spät.«
Es kam auf sie zu, sehr langsam, sehr schwerfällig. Das war Richards erster Gedanke. Und dann sah er, welch eine Strecke es zurücklegte, und ihm wurde klar, wie falsch er damit gelegen hatte, es für langsam zu halten. Zehn Meter von ihnen entfernt verlangsamte das Ungeheuer seinen Schritt und verharrte. Seine Flanken dampften. Es brüllte, triumphierend und angriffslustig.
Seine Seiten und sein Rücken waren mit zerbrochenen Speeren, gesplitterten Schwertern und verrosteten Messern gespickt.
Das gelbe Licht der Fackel glitzerte in seinen roten Augen, auf seinen Hauern und seinen Hörnern.
Es senkte den massigen Kopf. Eine Art Eber? dachte Richard und stellte dann fest, daß das Unsinn war: So riesig war kein Eber. Es hatte die Größe eines Stiers, eines Elefanten, eines Traums. Es starrte sie an, und es hielt hundert Jahre lang inne, die in einem Dutzend Herzschlägen vorbei waren.
Hunter kniete sich hin und hob den Speer aus dem Sumpf. Und mit einer Stimme, in der nichts als reine Freude war, sagte sie: »Ja! Endlich!«
Sie hatte sie alle vergessen; Richard im Schlamm und den Marquis und seine dumme Armbrust und die ganze Welt. Sie war glücklich und hingerissen, endlich war sie am rechten Ort, in der Welt, für die sie lebte. Ihre Welt enthielt zwei Dinge: Hunter und das Ungeheuer.
Auch das Ungeheuer wußte das. Sie waren das perfekte Paar, Jäger und Gejagter. Und wer wer war und was was, würde nur die Zeit enthüllen; die Zeit und der Tanz.
Das Ungeheuer griff an.
Hunter wartete, bis sie den Speichel aus seinem Maul tropfen sah, und als es über ihr war, stach sie mit dem Speer zu; doch während sie spürte, wie der Speer eindrang, wußte sie, daß sie den Bruchteil einer Sekunde zu lange gewartet hatte, und der Speer fiel ihr aus den gefühllosen Händen, und ein Hauer, schärfer als die schärfste Rasierklinge, durchbohrte ihre Seite.
Und als sie unter dem Ungeheuer zusammenbrach, spürte sie, wie seine Hufe ihren Arm und ihre Hüfte und ihre Rippen zermalmten. Und dann war es fort, verschwunden in der Dunkelheit, und der Tanz war vorbei.
Mr. Croup war erleichterter, das Labyrinth hinter sich zu haben, als er zugeben wollte. Doch er und Mr. Vandemar waren heil und ganz hindurchgekommen, und ihre Beute ebenfalls.
Vor ihnen befand sich eine Felswand, eine in die Felswand eingelassene Eichentür und ein in die Tür eingelassener ovaler Spiegel.
Mr. Croup berührte den Spiegel mit seiner schmutzigen Hand.
Die Oberfläche des Spiegels beschlug, als er sie berührte. Der Engel Islington schaute zu ihnen heraus.
Mr. Croup räusperte sich. »Guten Morgen, Sir. Wir sind’s, und wir haben die junge Lady, die zu holen Sie uns beauftragt hatten.«
»Und der Schlüssel?« Die sanfte Stimme des Engels schien von überallher zu kommen.
»Hängt an ihrem schwanengleichen Hals«, sagte Mr. Croup zufrieden.
»Tretet ein«, sagte der Engel.
Dann ging die Tür auf, und sie traten ein.
Es war alles so schnell gegangen. Das Ungeheuer war aus der Dunkelheit aufgetaucht, Hunter hatte sich den Speer geschnappt, es hatte sie angegriffen und war wieder in der Finsternis verschwunden.
Richard lauschte angestrengt. Er hörte nichts als das langsame tropf, tropf von Wasser, irgendwo, und das hohe Sirren von Mücken.
Hunter lag auf dem Rücken. Ein Arm war in einem eigenartigen Winkel abgeknickt. Er kroch durch den Schlamm zu ihr. »Hunter?« flüsterte er. »Hören Sie mich?«
Stille. Und dann, in einem derart schwachen Flüstern, daß er einen Moment lang glaubte, er habe es sich eingebildet. »Ja.«
Der Marquis stand immer noch ein paar Meter entfernt neben einer Wand. Jetzt rief er: »Richard – bleiben Sie, wo Sie sind. Die Kreatur wartet nur ab. Sie kommt zurück.«
Richard beachtete ihn nicht. Er sprach mit Hunter.
»Werden Sie …«, er hielt inne. Es kam ihm sehr dumm vor. Trotzdem sagte er es: »Werden Sie wieder gesund?«
Da lachte sie mit blutbefleckten Lippen und schüttelte den Kopf.
»Gibt es hier unten eigentlich irgendwelche Ärzte?« fragte er den Marquis.
»Hm. Nicht in dem Sinne, wie Sie meinen. Wir haben ein paar Heiler, eine Handvoll Quacksalber und Wundärzte …«
Hunter hustete und zuckte dann zusammen. Hellrotes Blut tropfte ihr aus dem Mundwinkel.
Der Marquis schob sich näher heran. »Haben Sie Ihr Leben irgendwo versteckt, Hunter?« fragte er.
»Ich bin Jägerin«, flüsterte sie verächtlich. »Von so etwas halten wir nichts …« Sie sog mühsam Luft in ihre Lungen und atmete dann aus, als strengte sie das Atmen bereits zu sehr an. »Richard, haben Sie je einen Speer benutzt?«
»Nein.«
»Nehmen Sie ihn«, flüsterte sie.
»Aber …«
»Tun Sie’s!« Ihre Stimme war leise und eindringlich. »Heben Sie ihn auf. Halten Sie ihn am stumpfen Ende fest.«
Richard hob den heruntergefallenen Speer auf. Er hielt ihn am stumpfen Ende fest. »Den Teil kannte ich schon«, erklärte er.
Der Schimmer eines Lächelns flog über ihr Gesicht. »Ich weiß.«
»Hören Sie«, sagte Richard und fühlte sich dabei nicht zum ersten Mal wie der einzig vernünftige Mensch in einem Irrenhaus. »Lassen Sie uns ganz leise sein. Vielleicht geht es wieder weg. Wir versuchen, Hilfe zu holen.«
Und nicht zum ersten Mal hörte ihm die Person, mit der er sprach, überhaupt nicht zu. »Ich habe etwas Schlimmes getan, Richard Mayhew«, flüsterte sie traurig. »Ich habe etwas sehr Schlimmes getan. Weil ich diejenige sein wollte, die das Ungeheuer tötet. Weil ich den Speer brauchte.«
Und dann begann sie sich mühsam aufzurichten. Richard war weder klar gewesen, wie schwer sie verletzt war, noch konnte er sich jetzt vorstellen, was für Schmerzen sie haben mußte. Er sah ihren rechten Arm, aus dessen Haut auf entsetzliche Weise ein weißer Knochensplitter ragte, nutzlos herabhängen. Blut lief aus einer Wunde in ihrer Seite. Ihr Brustkorb sah verkehrt aus.
»Hören Sie auf!« zischte er vergeblich. »Runter mit Ihnen!«
Mit der linken Hand zog sie ein Messer aus ihrem Gürtel, legte es in ihre Rechte und schloß die Finger darum.
»Ich habe etwas Schlimmes getan«, wiederholte sie. »Und jetzt versuche ich, es wieder gutzumachen.«
Dann begann sie zu summen. Hoch zu summen und tief zu summen, bis sie den Ton gefunden hatte, der die Wände und die Rohre und den Raum in Schwingungen versetzte, und sie summte diesen Ton, bis es schien, als würde ihr Summen im gesamten Labyrinth widerhallen. Und dann sog sie Luft in ihren zerschmetterten Brustkorb und rief: »Hey. Dicker? Wo bist du?«
Nichts. Kein Geräusch außer dem leisen Tropfen von Wasser. »Vielleicht ist es … weg …«, sagte Richard und umklammerte den Speer so fest, daß ihm die Hände wehtaten.
»Das möchte ich bezweifeln«, murmelte der Marquis.
»Na los, du Mistvieh«, stieß Hunter hervor. »Hast du etwa Angst?«