Vor ihnen ertönte ein tiefes Grollen, und das Ungeheuer griff von neuem an.
Diesmal durfte es keinen Fehler geben. Der Tanz, dachte Hunter. Der Tanz ist noch nicht vorbei.
Und als das Ungeheuer auf sie zukam, die Hörner gesenkt, schrie sie: »Jetzt – Richard! Stich zu! Von unten nach oben! Jetzt!«, und dann traf das Ungeheuer sie, und ihre Worte wurden zu einem wortlosen Schrei.
Richard sah es aus der Dunkelheit kommen, hinein in das Licht der Fackel. Es ging alles ganz langsam.
Es war wie ein Traum.
Es war wie alle seine Träume.
Das Ungeheuer war so nah, daß er seinen animalischen Gestank nach Blut und Kot riechen konnte, so nah, daß er seine Wärme spüren konnte.
Und er stach zu, so heftig er konnte, stieß den Speer von unten nach oben hinein.
Da ertönte ein Gebrüll oder ein Schrei der Qual und des Hasses und des Schmerzes. Und dann war es still.
Er hörte sein Herz in seinen Ohren pochen. Er hörte Wasser tropfen. Die Mücken begannen wieder zu sirren.
Er stellte fest, daß er immer noch das Heft des Speeres festhielt, obgleich die Klinge tief in dem Körper des Ungeheuers steckte. Er ließ los.
Dann hielt er nach Hunter Ausschau. Ihr Körper war unter dem Ungeheuer eingeklemmt. Er drückte, so kräftig er konnte, gegen das warme tote Gewicht des Tieres. Es war, als würde er einen Chieftain-Panzer anschieben. Doch schließlich rollte er es mühsam ein wenig von ihr herunter.
Hunter lag auf dem Rücken und starrte hinauf ins Dunkel. Ihre Augen waren offen, doch irgendwie wußte er, daß sie nichts sahen.
»Hunter?« sagte er.
»Ich bin noch hier, Richard Mayhew.« Ihre Stimme klang beinahe körperlos. Sie versuchte gar nicht erst, ihn mit ihren Augen zu finden, ihn zu fixieren. »Ist es tot?«
»Ich glaube schon. Es bewegt sich nicht.«
Und dann lachte sie; es war ein seltsames Lachen – als hätte sie gerade den lustigsten Witz vernommen, der jemals einem Jäger zu Ohren gekommen war. Und zwischen Lachen und Husten erzählte sie den beiden diesen Witz: »Sie haben das Ungeheuer getötet«, sagte sie. »Jetzt sind Sie der größte Jäger Unter-Londons. Der Krieger …« Und dann hörte sie auf zu lachen. »Ich spüre meine Hände nicht. Nehmen Sie meine rechte Hand.«
Richard tastete unter dem Körper des Ungeheuers und nahm Hunters Hand in seine.
»Habe ich noch ein Messer in der Hand?« flüsterte sie.
»Ja.« Er konnte es fühlen, kalt und klebrig.
»Nehmen Sie das Messer. Es gehört Ihnen.«
»Ich will es nicht …«
»Nimm es.«
Er löste das Messer aus ihren Fingern.
»Es gehört jetzt dir«, flüsterte Hunter. Nichts bewegte sich außer ihren Lippen; und ihre Augen trübten sich. »Es hat mich immer beschützt. Du mußt allerdings mein Blut abwischen … Die Klinge darf nicht verrosten … Ein Jäger pflegt seine Waffen.« Sie schluckte Luft. »Jetzt … berühre mit dem Blut des Ungeheuers … deine Augen und deine Zunge …«
Richard wußte nicht recht, ob er sich verhört hatte. »Was?«
Der Marquis sprach in sein Ohr. Richard hatte gar nicht bemerkt, daß er nähergekommen war. »Tun Sie es, Richard. Sie hat recht. Das wird Sie durchs Labyrinth führen. Tun Sie’s.«
Richard griff nach dem Speer und fuhr mit der Hand am Heft entlang, bis er das warme, klebrige Blut des Ungeheuers spürte. Er kam sich etwas idiotisch dabei vor, doch er berührte mit der Hand seine Zunge und dann seine Augen. »Fertig«, sagte er.
»Das ist gut«, flüsterte Hunter. Mehr sagte sie nicht.
Der Marquis de Carabas streckte die Hand aus und schloß ihr die Augen. Richard wischte Hunters Messer an seinem Hemd ab. Das hatte sie ihm schließlich aufgetragen. Es ersparte ihm das Denken.
»Gehen wir«, sagte der Marquis und erhob sich.
»Wir können sie doch nicht einfach hierlassen.«
»Doch. Wir können den Leichnam später abholen.«
Richard polierte die Klinge an seinem Hemd, so gründlich er konnte. »Und wenn es kein Später gibt?«
»Dann müssen wir hoffen, daß jemand sich unser aller Überreste annimmt. Einschließlich jener von Lady Door. Und die ist es bestimmt langsam leid, auf uns zu warten.«
Richard schaute zu Boden. Er wischte die letzten Spuren von Hunters Blut von ihrem Messer und steckte es sich in den Gürtel. Dann nickte er.
»Gehen Sie«, sagte de Carabas. »Ich folge Ihnen, so schnell ich kann.«
Richard zögerte; und dann rannte er los, was das Zeug hielt.
Vielleicht lag es am Blut des Ungeheuers. Ihm fiel keine andere Erklärung ein. Aus welchem Grund auch immer, er lief auf direktem Weg durch das Labyrinth hindurch. Für ihn barg es keine Geheimnisse mehr. Er hatte das Gefühl, er kannte jede Ecke, jeden Weg, jede Gasse, jeden Pfad und jeden Tunnel.
Er war erschöpft, als er so durch das Labyrinth lief. Das Blut pochte ihm in den Schläfen. Ein Vers ging ihm beim Laufen durch den Kopf, zum Rhythmus seiner Füße. Es war etwas, das er als Kind gehört hatte.
Heute nacht, wie jede Nacht,
gibt Kerzenschein uns Licht.
Bis morgen dann die Sonne lacht,
denn Christ vergißt uns nicht.
Wie ein Klagelied gingen ihm die Worte immer und immer wieder im Kopf herum. Gibt Kerzenschein uns Licht …
Am Ende des Labyrinths befand sich ein steiler Granitfelsen, und in den Felsen eingelassen war eine hohe hölzerne Doppeltür. An einer der Türen hing ein ovaler Spiegel. Sie war geschlossen. Er berührte das Holz, und daraufhin öffnete sie sich lautlos. Richard trat ein.
Kapitel Siebzehn
Richard folgte dem Weg der brennenden Kerzen, der ihn durch die Gruft zum Großen Saal führte. Er erkannte den Ort wieder. Hier hatten sie den Wein des Engels getrunken: ein Achteck aus eisernen Pfeilern, die riesige schwarze Tür, der Tisch, die Kerzen.
Door war mit ausgebreiteten Armen und Beinen zwischen zwei Pfeilern festgekettet, neben der Tür aus Feuerstein und Silber. Sie starrte ihn an, als er hereinkam, die seltsam gefärbten Koboldaugen weit aufgerissen und voller Angst.
Der Engel Islington, der neben ihr stand, drehte sich um und lächelte Richard an, als dieser eintrat. Das ließ ihm mehr als alles andere das Blut in den Adern erstarren: das sanfte Mitgefühl, die Liebenswürdigkeit dieses Lächelns.
»Komm herein, Richard Mayhew. Komm herein«, sagte der Engel Islington. »Du meine Güte. Du siehst ja schlimm aus.« Besorgnis lag in seiner Stimme. Richard zögerte.
»Bitte.« Der Engel gestikulierte, lockte mit dem Finger, ermutigte ihn, hereinzukommen. »Ich glaube, wir sind bereits alle miteinander bekannt. Du kennst natürlich Lady Door und meine Mitarbeiter, Mister Croup und Mister Vandemar.«
Richard drehte sich um. Croup und Vandemar standen neben ihm, jeder auf einer Seite. Mr. Vandemar lächelte ihn an. Mr. Croup nicht.
»Ich hatte gehofft, daß du hier auftauchen würdest«, sagte der Engel. Er legte den Kopf zur Seite und fragte: »Nebenbei gefragt, wo ist Hunter?«
»Sie ist tot«, sagte Richard.
Er hörte, wie Door nach Luft schnappte.
»Ach, das arme Ding«, sagte Islington. Er schüttelte den Kopf. Offensichtlich bedauerte er den sinnlosen Verlust von Menschenleben, die Zerbrechlichkeit alles Sterblichen.
»Trotzdem«, sagte Mr. Croup. »Wo gehobelt wird, da fallen Köpfe.«
Richard ignorierte die anderen, so gut er konnte. »Door? Alles in Ordnung?«
»Mehr oder weniger, danke. Bis jetzt.« Ihre Unterlippe war geschwollen, und sie hatte eine Schramme auf der Wange.
»Ich fürchte«, sagte Islington, »Miss Door hat sich ein wenig unkooperativ gezeigt. Gerade haben wir darüber gesprochen, ob Mister Croup und Mister Vandemar sie nicht …« Er hielt inne. Es gab offensichtlich Dinge, die ihm tatsächlich zu geschmacklos waren, um sie auszusprechen.