Door schüttelte den Kopf. »Sie haben ihn getötet, weil er Ihnen Ihre Bitte abgeschlagen hat?«
»Ich habe ihn nicht getötet«, sagte Islington sanft. »Ich habe ihn töten lassen.«
»Aber er hat mir gesagt, ich könnte Ihnen trauen. Er hat mir gesagt, ich solle herkommen. In seinem Tagebuch.«
Mr. Croup begann zu kichern. »Hat er nicht«, sagte er. »Hat er niemals. Das waren wir. Was hat er in Wirklichkeit gesagt, Mister Vandemar?«
»Traue Islington nicht«, sagte Mr. Vandemar mit der Stimme ihres Vaters. Sie klang täuschend echt. »Hinter all dem muß Islington stecken. Er ist gefährlich, Door – halte dich von ihm fern – «
Islington streichelte mit dem Schlüssel ihre Wange. »Ich dachte, meine Version würde dich ein bißchen schneller herbringen.«
»Wir haben das Tagebuch geholt«, sagte Mr. Croup. »Wir haben es korrigiert, und wir haben es wieder zurückgebracht.«
»Wohin führt die Tür?« rief Richard.
»Nach Haus«, antwortete der Engel.
»In den Himmel?«
Und Islington sagte nichts, aber er lächelte, wie eine Katze, die nicht nur die Sahne und den Kanarienvogel gefressen hat, sondern auch das Huhn, das es zum Abendessen geben sollte, und die Crème brulée, die als Dessert gedacht war.
»Und Sie glauben also, sie werden nicht merken, daß Sie wieder da sind?« feixte der Marquis. »Und es wird nur heißen: ›Ach, schaut mal, da ist ja noch ein Engel, hier, schnapp dir ’ne Harfe, und los geht’s mit den Hosiannas‹?«
Islingtons Augen leuchteten hell. »Die süße Qual der Schmeichelei, der Hymnen und Heiligenscheine und selbstsüchtigen Gebete ist nichts für mich«, sagte er. »Ich habe … meine eigenen Pläne.«
»Nun ja, Sie haben den Schlüssel«, sagte Door.
»Und ich habe dich«, erwiderte der Engel. »Du bist der Öffner. Ohne dich ist der Schlüssel nutzlos. Öffne die Tür für mich.«
»Sie haben ihre Familie umgebracht«, sagte Richard. »Sie haben sie durch ganz Unter-London gejagt. Jetzt wollen Sie, daß sie eine Tür für Sie öffnet, damit Sie einfach so in den Himmel einziehen können? Sie besitzen keine besonders gute Menschenkenntnis, was? Das macht sie nie.«
Da sah der Engel ihn an, mit Augen, die älter waren als die Milchstraße. Dann sagte er: »Oh je«, und wandte ihm den Rücken zu, als sei er nicht bereit, sich die unschönen Dinge mit anzuschauen, die gleich geschehen würden.
»Tun Sie ihm noch etwas mehr weh, Mister Vandemar«, sagte Mr. Croup. »Schneiden Sie ihm das Ohr ab.«
Mr. Vandemar hob die Hand. Sie war leer. Sein Arm zuckte fast unmerklich, und jetzt hielt er ein Messer in der Hand. »Hab’ Ihnen ja gesagt, daß Sie eines Tages herausfinden würden, wie Ihre eigene Leber schmeckt«, sagte er. »Heute ist Ihr Glückstag.«
Er ließ die Messerklinge sanft unter Richards Ohrläppchen gleiten. Richard verspürte keinen Schmerz – vielleicht, dachte er, hatte er an diesem Tag schon zu viele Schmerzen erlitten, vielleicht war die Klinge zu scharf, um wehzutun. Aber er fühlte das Blut naß von seinem Ohr seinen Hals hinuntertropfen.
Door beobachtete ihn, und er sah nur noch ihr koboldhaftes Gesicht und ihre riesigen, seltsam gefärbten Augen. Er versuchte, ihr telepathische Botschaften zu senden. Halt durch. Laß dich nicht kleinkriegen. Ich übersteh’ das schon.
Dann übte Mr. Vandemar ein wenig Druck auf das Messer aus, und Richard begann zu schreien.
»Sagen Sie ihnen, sie sollen aufhören«, sagte Door. »Ich werde Ihnen die Tür öffnen.«
Islington machte eine knappe Handbewegung, und Mr. Vandemar seufzte mitleiderregend und steckte das Messer weg. Das warme Blut tropfte an Richards Hals herunter und sammelte sich in der Grube seines Schlüsselbeins.
Mr. Croup ging hinüber zu Door und schloß die Handschelle an ihrer rechten Hand auf. Sie stand da und rieb sich das Handgelenk, eingerahmt von den Pfeilern. Links war sie immer noch angekettet, doch jetzt hatte sie etwas Bewegungsfreiheit. Sie streckte die Hand nach dem Schlüssel aus.
»Vergiß nicht«, sagte Islington. »Ich habe deine Freunde.«
Door schaute ihn mit tiefster Verachtung im Blick an, jeder Zentimeter Lord Porticos älteste Tochter. »Geben Sie mir den Schlüssel«, sagte sie.
Der Engel reichte ihr den silbernen Schlüssel.
»Door!« rief Richard. »Tu das nicht. Laß ihn nicht frei. Was mit uns passiert, ist gleichgültig!«
»Also«, sagte der Marquis, »was mit mir passiert, ist durchaus nicht gleichgültig. Dennoch muß ich mich seinen Worten anschließen. Tun Sie es nicht.«
Sie schaute von Richard zum Marquis und ließ ihre Augen auf deren gefesselten Händen verweilen, auf den schweren Ketten, die sie an den schwarzen Eisenpfeilern festhielten. Sie sah sehr verletzlich aus; und dann wandte sie sich ab und ging so weit, wie ihre Kette es ihr erlaubte, bis sie vor der schwarzen Tür aus Feuerstein und angelaufenem Silber stand.
Das Schlüsselloch fehlte. Sie legte die Handfläche ihrer rechten Hand an die Tür und schloß die Augen. Als sie die Hand wegnahm, befand sich an der Stelle, wo ihre Hand gewesen war, ein Schlüsselloch. Ein weißes Licht drang dadurch hindurch in die von Kerzen erhellte Dunkelheit des Saals.
Das Mädchen steckte den silbernen Schlüssel in das Schlüsselloch. Einen Moment war es still, und dann drehte sie ihn um. Etwas klickte, ein glockenhelles Klingeln ertönte, und plötzlich war die Tür von Licht gerahmt.
»Wenn ich fort bin«, sagte der Engel zu Mr. Croup und Mr. Vandemar, voller Charme und Freundlichkeit und Mitgefühl, »können Sie sie alle umbringen, wenn Sie möchten.«
Er wandte sich wieder zur Tür, die Door gerade aufzog: Sie öffnete sich nur langsam, als laste ein großer Widerstand auf ihr. Door keuchte.
»Ihr Arbeitgeber verläßt uns also«, sagte der Marquis zu Mr. Croup. »Ich hoffe, Sie beide sind bereits ausgezahlt worden.«
Croup warf dem Marquis einen Blick zu und sagte: »Was?«
»Nun ja«, hakte Richard ein, als er begriff, worauf der Marquis hinauswollte. »Sie glauben doch nicht, daß Sie ihn je wiedersehen werden, oder?«
Mr. Vandemar blinzelte langsam und sagte: »Was?«
Mr. Croup kratzte sich am Kinn. »In diesem Punkt haben die Leichen in spe recht«, sagte er zu Mr. Vandemar. Er ging auf den Engel zu, der mit verschränkten Armen vor der Tür stand. »Sir? Es wäre vielleicht klug, wenn Sie mit uns abrechnen würden, bevor Sie den nächsten Abschnitt ihrer Reise antreten.«
Der Engel drehte sich um und blickte auf ihn herab, als sei er unbedeutender als das kleinste Fleckchen Schmutz. Dann wandte er sich ab. Richard fragte sich, was in ihm vorgehen mochte.
»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte der Engel. »Bald wird jede Belohnung, die eure widerwärtigen kleinen Hirne auszubrüten in der Lage sind, euer sein. Wenn ich den Thron bestiegen habe.«
»Und die Kohle gibt’s ein andermal, was?« sagte Richard.
»Mag keine Kohle«, sagte Mr. Vandemar. »Muß ich vorn aufstoßen.«
Mr. Croup drohte Mr. Vandemar mit dem Finger. »Er will uns verschaukeln«, sagte er. »Mister Croup und Mister Vandemar verschaukelt man nicht, Freundchen. Wir werden unser Geld schon eintreiben.«
Mr. Vandemar ging dorthin, wo Mr. Croup stand. »Und zwar bis auf den letzten Heller und Pfennig«, sagte er.
»Mit Zinsen«, bellte Mr. Croup.
»Und Fleischerhaken«, fügte Mr. Vandemar hinzu.
»Im Himmel?« rief Richard hinter ihnen.
Mr. Croup und Mr. Vandemar gingen auf den in Gedanken versunkenen Engel zu. »He!« sagte Mr. Croup.