Die Tür hatte sich geöffnet, einen Spalt nur, aber sie war offen. Licht strömte durch den Türspalt. Der Engel trat einen Schritt vor. Es war, als träumte er mit weit offenen Augen. Das Licht aus dem Türspalt badete sein Gesicht, und er trank es wie Wein.
»Fürchtet euch nicht«, sagte er. »Denn wenn die Unermeßlichkeit der Schöpfung mein ist und sich alle um meinen Thron versammeln, um mir ein Hosianna zu singen, werde ich die Würdigen belohnen und jene verstoßen, deren Anblick mir verhaßt ist.«
Und dann murmelte er halblaut noch etwas anderes. Richard hatte nicht genau verstanden, was er gesagt hatte, behauptete allerdings später, es hätte sehr nach: »Zuallererst Gabriel, diesen Mistkerl« geklungen.
Mit einer letzten Kraftanstrengung riß Door die schwarze Tür vollends auf.
Sie waren geblendet von dem, was durch die Tür zu sehen war: ein mahlstromartiger Strudel von Farbe und Licht. Richard kniff die Augen zusammen und wandte den Kopf von dem grellen Leuchten. Sieht so der Himmel aus? Das kommt mir eher wie die Hölle vor.
Und dann spürte er den Wind.
Eine Kerze flog an seinem Kopf vorbei und verschwand durch die Tür. Und dann noch eine. Und dann war die Luft voller Kerzen, die alle durch den Raum auf das Licht zuwirbelten. Es war, als würde der ganze Saal durch die Tür gesogen. Es war jedoch mehr als ein Wind. Das wußte Richard. Seine Handgelenke begannen zu schmerzen, dort, wo sie gefesselt waren – als sei er plötzlich doppelt so schwer. Und dann veränderte sich sein Blickwinkel. Wenn man durch die Tür schaute – schaute man nach unten: Es war nicht nur der Wind, der alles zur Tür zog. Es war die Schwerkraft. Der Wind war nur die Luft im Saal, die an den Ort auf der anderen Seite der Tür gesogen wurde. Er fragte sich, was sich dort befand – die Oberfläche eines Sterns oder der Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs oder etwas, das er sich gar nicht vorstellen konnte.
Islington griff nach dem Pfeiler neben der Tür und hielt sich verzweifelt daran fest.
»Das ist nicht der Himmel«, schrie der Engel. »Du verrückte kleine Hexe! Was hast du getan?«
Doors Hände umkrampften ihre Ketten. Sie sagte nichts, doch in ihren Augen leuchtete Begeisterung.
Mr. Vandemar hatte ein Tischbein zu fassen bekommen, während Mr. Croup Mr. Vandemar zu fassen bekommen hatte.
»Das war nicht der richtige Schlüssel«, sagte Door triumphierend über das Brüllen des Windes hinweg. »Das war nur eine Kopie. Die habe ich auf dem Markt von Hammersmith machen lassen.«
»Aber er hat die Tür geöffnet«, schrie der Engel.
»Nein«, sagte das Mädchen mit den seltsam gefärbten Augen. »Ich habe eine Tür geöffnet. So weit weg, wie ich konnte, habe ich eine Tür geöffnet.«
Im Gesicht des Engels war keine Spur von Freundlichkeit oder Mitgefühl mehr zu sehen; nur Haß, pur und ehrlich und kalt. »Ich werde dich töten«, sagte er.
»Wie Sie meine Familie getötet haben? Ich glaube nicht, daß Sie noch mal jemanden töten werden.«
Der Engel hing mit bleichen Fingern an seinem Pfeiler, doch sein Körper bildete einen rechten Winkel zum Raum und ragte bereits zum größten Teil durch die Tür. Er sah gleichzeitig komisch und furchtbar aus. Er leckte sich die Lippen. »Hör auf!« bettelte er. »Mach die Tür zu! Ich sage dir, wo deine Schwester ist … Sie ist noch am Leben …«
Door zuckte zusammen.
Und Islington wurde durch die Tür gesogen, eine winzige Gestalt, die im Fallen immer kleiner wurde, als der blendende Abgrund auf der anderen Seite sie verschlang.
Der Sog wurde stärker. Richard betete darum, daß seine Ketten und Handschellen hielten: Er spürte, wie er zur Öffnung gezogen wurde, und aus dem Augenwinkel sah er den Marquis an seinen Ketten baumeln, wie eine Marionette, die gleich von einem Staubsauger verschluckt wird.
Der Tisch, an dessen Bein Mr. Vandemar sich festhielt, flog durch die Luft und blieb in der offenen Tür stecken. Mr. Croup und Mr. Vandemar landeten auf der anderen Seite. Mr. Croup, der buchstäblich an Mr. Vandemars Rockschößen hing, holte tief Luft und begann langsam, eine Hand nach der anderen, Mr. Vandemars Rücken hochzuklettern.
Der Tisch knarrte.
Mr. Croup sah Door an, und er lächelte wie ein Fuchs auf LSD. »Ich habe Ihre Familie getötet«, sagte Mr. Croup. »Nicht er. Und jetzt werde ich – endlich – beenden, was ich …«
In diesem Moment gab der Stoff von Mr. Vandemars dunklem Anzug nach. Mr. Croup stürzte schreiend ins Leere, einen langen Streifen schwarzen Stoffs zwischen den Fingern. Mr. Vandemar schaute der armrudernden Gestalt Mr. Croups nach. Auch er sah zu Door hinüber, doch sein Blick enthielt keine Drohung. Er zuckte mit den Schultern, so gut man das eben kann, wenn man sich gleichzeitig auf Leben und Tod an einem Tischbein festhält, und dann sagte er milde: »Nacht«, und ließ das Tischbein los.
Schweigend tauchte er durch die Tür ins Licht, im Fallen schrumpfend, der winzigen Gestalt Mr. Croups hinterher. Bald waren sie nur noch ein schwarzer Punkt in einem Meer schäumenden Lichts, und dann war auch der fort.
Es machte irgendwie Sinn, dachte Richard: Schließlich waren sie ein Team.
Das Atmen wurde schwerer. Richard fühlte sich schwindelig und benommen.
Der Tisch in der Tür zersplitterte und wurde fortgesogen.
Eine von Richards Handschellen sprang auf, und sein rechter Arm riß sich frei. Er griff nach der Kette, die die linke Hand hielt, und umklammerte sie, so fest er konnte, dankbar, daß der gebrochene Finger sich an der Hand befand, die noch gefesselt war. Dennoch schossen rote und blaue Blitze des Schmerzes seinen linken Arm hinauf. Er hörte sich schreien. Er konnte nicht atmen. Weiße Lichtkleckse explodierten hinter seinen Augen.
Er spürte, wie die Kette langsam nachgab …
Dann hörte er nur noch das Geräusch der zuschlagenden schwarzen Tür.
Richard knallte heftig gegen den Pfeiler und sackte auf dem Boden zusammen. In der Halle herrschte Stille; Stille und völlige Dunkelheit, in der Großen Halle unter der Erde.
»Wo haben Sie sie denn hingeschickt?« Das war die Stimme des Marquis.
Und dann hörte Richard eine Mädchenstimme. Er wußte, sie mußte Door gehören, doch sie klang so jung wie die Stimme eines kleinen Kinds beim Schlafengehen. »Weiß ich nicht. Ganz weit weg. Ich … bin jetzt sehr müde. Ich …«
»Door«, sagte der Marquis. »Reißen Sie sich zusammen. « Es war gut, daß er das sagte, dachte Richard. Jemand mußte es tun. Und Richard wußte nicht mehr, wie man sprach.
Es klickte in der Dunkelheit: das Geräusch einer sich öffnenden Handschelle, gefolgt von dem Geräusch von Ketten, die gegen einen Metallpfeiler fielen. Dann das Geräusch eines Streichholzes, das angerissen wurde. Eine Kerze wurde angezündet: Sie brannte schwach und flackerte in der dünnen Luft.
Gibt Kerzenschein uns Licht, dachte Richard, und er wußte nicht mehr, warum.
Door ging auf wackligen Beinen zum Marquis, die Kerze in der Hand. Sie streckte eine Hand aus, berührte seine Ketten, und seine Handschellen öffneten sich klickend. Er rieb sich die Handgelenke.
Dann ging sie zu Richard hinüber und berührte seine verbliebene noch geschlossene Handschelle. Sie öffnete sich. Door seufzte und setzte sich neben ihn. Er streckte den Arm aus, schlang ihn um ihren Kopf und drückte sie an sich. Er wiegte sie langsam vor und zurück und summte ein wortloses Wiegenlied.
Es war kalt, kalt, dort in dem leeren Saal des Engels; doch bald streckte die Wärme der Bewußtlosigkeit ihre Arme aus und hüllte sie beide ein.
Der Marquis de Carabas beobachtete die schlafenden Kinder. Der Gedanke an Schlaf – selbst nur für kurze Zeit in einen Zustand zurückzukehren, der dem Tod so entsetzlich nah war – machte ihm mehr angst, als er je für möglich gehalten hätte. Doch schließlich legte er den Kopf auf den Arm und schloß die Augen.