»Ich dachte, Ihr wärt größer«, sagte der Earl schließlich.
»Tut mir leid.«
»Nun denn, fangen wir an.« Er stand auf und wandte sich an den leeren Waggon. »Guten Abend. Wir sind hier, den jungen Maybury zu ehren. Wie sagt doch der Barde? « Und dann rezitierte er rhythmisch dröhnend: »Bäche des Blutes brechen hervor, flink fällt der Feind, rettender, ruhmvoller Recke, kühnster Knabe … Ein Knabe ist er allerdings eigentlich nicht, was, Tooley?«
»Nicht direkt, Euer Gnaden.«
Der Earl streckte die Hand aus. »Gebt mir Euer Schwert, mein Freund.«
Richard faßte sich an den Gürtel und zog das Messer heraus, das Hunter ihm geschenkt hatte. »Geht das auch?« fragte er.
»Ja-ja«, sagte der alte Mann und nahm es entgegen.
»Hinknien!« soufflierte Tooley und deutete auf den Boden des Zuges. Richard ließ sich auf ein Knie nieder.
Der Earl tippte ihm mit dem Messer sanft auf beide Schultern. »Steht auf«, brüllte er, »Sir Richard of Maybury. Mit diesem Messer verleihe ich Euch die Freiheit der Unterseite. Es sei Euch erlaubt, Euch ohne Hindernisse und Hürden frei zu bewegen … und so weiter und so fort … et cetera … blah blah blah.« Seine Stimme erstarb.
»Danke«, sagte Richard. »Eigentlich heiße ich Mayhew. «
Doch der Zug hielt.
»Hier müßt Ihr aussteigen«, sagte der Earl. Er gab Richard sein Messer zurück und klopfte ihm auf den Rücken.
Der Ort, an dem Richard ausstieg, war keine U-Bahn-Haltestelle. Er lag über der Erde. Ein wenig erinnerte er Richard an den Bahnhof St. Pancras – die Architektur hatte etwas ähnlich Überdimensionales und Pseudogotisches. Aber auch etwas Verkehrtes, das ihn irgendwie als Teil von Unter-London kennzeichnete.
Das Licht war von dem seltsamen Grau, das man kurz vor dem Morgengrauen und nach dem Sonnenuntergang sieht, wenn die Welt verwaschen ist und Farben und Entfernungen sich nicht mehr einschätzen lassen.
Ein Mann saß auf einer Bank und starrte ihn an, und Richard näherte sich ihm vorsichtig, denn in dem Grau konnte er nicht erkennen, wer es war. Richard hielt immer noch Hunters Messer – sein Messer – in der Hand, und um sich zu beruhigen, packte er das Heft jetzt noch fester.
Der Mann schaute hoch, als Richard näherkam, und sprang auf. Es war Lord Rattensprecher. »Nun-nun. Ja-ja«, sagte der Rattensprecher erregt. »Wollte nur sagen, das Mädchen Anaesthesia. Nichts für ungut. Die Ratten sind immer noch Ihre Freunde. Und die Rattensprecher. Kommen Sie nur zu uns. Wir tun für Sie, was wir können.«
»Danke«, sagte Richard. Lord Rattensprecher hantierte auf der Bank herum und präsentierte Richard eine schwarze Sporttasche mit Reißverschluß, die ihm überaus vertraut vorkam.
»Es ist alles da. Alles. Sehen Sie nach.«
Richard öffnete die Tasche. All seine Besitztümer waren darin, einschließlich seiner Brieftasche, die zuoberst auf einer sauber gefalteten Jeans lag. Er zog den Reißverschluß zu, warf sich die Tasche über die Schulter und ging fort, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Er trat aus dem Bahnhof und stieg ein paar Stufen hinab.
Alles war still. Alles war leer. Totes Herbstlaub wehte über den Vorplatz, ein gelbes, ockerfarbenes und braunes Flirren. Er überquerte den Platz und ging ein paar Stufen in eine Unterführung hinunter. Etwas flatterte im Halbdunkel.
Richard drehte sich mißtrauisch um. Es war etwa ein Dutzend, in dem Gang hinter ihm, und sie glitten fast lautlos auf ihn zu, nur ein Rascheln dunklen Samtes und ein gelegentliches Glitzern von Silberschmuck verriet, daß sie da waren. Sie beobachteten ihn mit hungrigen Augen.
Da bekam er Angst. Sicher, er hatte das Messer. Aber er konnte damit ebensowenig kämpfen, wie er in der Lage war, über die Themse zu springen. Er hoffte, daß es ihnen wenigstens Angst einjagen würde.
Er roch Geißblatt und Maiglöckchen und Moschus.
Lamia schob sich in die erste Reihe der Velvets und trat vor. Richard hob das Messer. Die Kälte ihrer Umarmung fiel ihm wieder ein.
Sie lächelte ihn an und neigte anmutig den Kopf. Dann zwinkerte sie ihm zu, küßte ihre Fingerspitzen und blies den Kuß zu ihm hinüber.
Er schauderte.
Etwas flatterte in der Dunkelheit der Unterführung, und als er wieder hinschaute, waren da nur noch Schatten.
Durch die Unterführung, dann ein paar Stufen hoch, und er befand sich auf einem kleinen grasbewachsenen Hügel, kurz vor dem Morgengrauen. Das Licht war seltsam und unnatürlich, doch er konnte Einzelheiten der Landschaft um sich herum erkennen: Eichen, Eschen und Buchen. Ein breiter Fluß wand sich sanft durch die grüne Natur. Als er sich umschaute, stellte er fest, daß er sich auf einer Art Insel befand – zwei kleinere Flüsse, die in den größeren mündeten, schnitten ihn vom Festland ab.
Da wußte er, ohne zu wissen, woher, aber dennoch mit absoluter Gewißheit, daß er in London war – aber in London, wie es vielleicht vor dreitausend Jahren gewesen war, bevor der erste Grundstein für die erste menschliche Behausung gelegt wurde.
Er öffnete seine Tasche und legte das Messer hinein, neben seine Brieftasche. Dann zog er den Reißverschluß wieder zu. Der Himmel wurde langsam heller, aber es war ein seltsames Licht. Es war irgendwie jünger als das Sonnenlicht, das er kannte. Eine orangerote Sonne ging im Osten auf: wo einmal die Docklands sein würden, und weiter draußen, in Richtung Greenwich und Kent und zum Meer hin.
»Hallo«, sagte Door. Er hatte sie nicht kommen sehen. Sie trug andere Sachen unter ihrer abgeschabten braunen Lederjacke: immer noch mehrere Schichten übereinander, zerrissen und geflickt, aber aus Taft und Spitze und Seide und Brokat.
»Hallo«, sagte Richard.
Sie stellte sich neben ihn und umschlang mit ihren kleinen Fingern seine rechte Hand, die Hand, die die Sporttasche hielt.
»Wo sind wir?« fragte er.
»Auf der gräßlichen und furchterregenden Insel Westminster«, erklärte sie. Es klang, als sei das ein Zitat, aber er glaubte nicht, daß er es schon einmal gehört hatte.
Sie begannen über das lange Gras zu gehen, das naß war vom schmelzenden Reif. Ihre Fußabdrücke hinterließen eine dunkelgrüne Spur, die verriet, wo sie gewesen waren.
»Hör mal«, sagte Door. »Jetzt, wo der Engel fort ist, muß in Unter-London eine Menge neu geregelt werden. Vor dieser Aufgabe stehe ich nun ganz allein. Mein Vater wollte Unter-London vereinen … ich schätze, ich sollte versuchen, das, was er begonnen hat, zu Ende zu führen.«
Sie gingen gen Norden, fort von der Themse. Weiße Möwen kreisten über ihnen am Himmel und schrien.
»Und du hast ja gehört, wie Islington gesagt hat, er habe für alle Fälle meine Schwester am Leben gelassen. Vielleicht bin ich nicht die einzige von uns, die noch lebt. Und du hast mir das Leben gerettet.« Sie hielt inne, und dann sprudelte es aus ihr heraus: »Du warst mir ein wirklich guter Freund, Richard. Und irgendwie habe ich dich ganz gern in meiner Nähe. Bitte, geh nicht.«
Er langte mit seiner verletzten linken Hand hinüber und tätschelte verlegen die ihre.
»Na ja«, sagte er, »ich hab’ dich auch irgendwie ganz gern in meiner Nähe. Aber ich gehöre nicht in diese Welt. In meinem London … also, das Gefährlichste, was einem da passieren kann, ist, daß man auf ein Taxi trifft, das es etwas eilig hat. Ich mag dich auch. Ich mag dich furchtbar gern. Aber ich will nach Hause.«
Sie blickte mit ihren seltsam gefärbten Augen zu ihm empor. »Dann werden wir uns nie wiedersehen«, sagte sie.
»Das werden wir wohl nicht.«
»Danke für alles, was du getan hast«, sagte sie. Dann schlang sie die Arme um ihn, und sie drückte ihn so fest, daß die Prellungen an seinen Rippen schmerzten, und er erwiderte ihre Umarmung ebenso fest und achtete nicht auf den Schmerz.