Sie schloß die Bürotür und ging ein paar Schritte auf ihn zu. »Richard. Weißt du was? Es ist seltsam, aber ich erinnere mich, die Verlobung gelöst zu haben. Ich weiß jedoch kaum noch, worüber wir uns gestritten haben.«
»Nein?«
»Das ist allerdings auch gar nicht wichtig. Oder?« Sie schaute sich im Büro um. »Du bist befördert worden.«
»Ja.«
»Das freut mich für dich.« Sie griff in ihre Manteltasche und zog eine kleine braune Schachtel hervor. Sie stellte sie auf Richards Schreibtisch.
Er öffnete die Schachtel, obgleich er wußte, was darin war.
»Das ist unser Verlobungsring. Ich dachte, nun ja, vielleicht gebe ich ihn dir zurück und dann, also, wenn alles wieder in Ordnung käme, na ja, vielleicht würdest du ihn mir eines Tages wiedergeben.«
Er glitzerte im Sonnenlicht: Der größte Betrag, den er je für etwas ausgegeben hatte.
Er schloß die Schachtel und gab sie ihr zurück.
»Behalte du ihn, Jessica«, sagte er. Und dann: »Es tut mir leid.«
Sie biß sich auf die Unterlippe. »Hast du jemanden kennengelernt?«
Er zögerte. Er dachte an Lamia und Hunter und Anaesthesia und sogar an Door, doch keine von denen war in dem Sinne ein Jemand, wie sie es meinte.
»Nein. Niemand anders«, sagte er. Und dann sagte er und bemerkte gleichzeitig, daß es wahr war: »Ich habe mich nur verändert, mehr nicht.«
Seine Gegensprechanlage summte. »Richard? Wir warten auf Sie.«
Er drückte auf den Knopf. »Komme sofort, Sylvia.« Er sah Jessica an.
Sie sagte nichts. Vielleicht traute sie es sich nicht zu, noch etwas zu sagen. Sie ging hinaus, und sie schloß leise die Tür hinter sich.
Richard nahm mit einer Hand die Papiere, die er brauchen würde. Mit der anderen Hand fuhr er sich übers Gesicht, als ob er etwas wegwischte: Kummer vielleicht, oder Tränen, oder Jessica.
Er begann wieder mit der U-Bahn zur Arbeit und zurück zu fahren. Allerdings kaufte er sich morgens und abends keine Zeitungen mehr. Lieber musterte er die Gesichter der anderen Leute im Zug und fragte sich, ob sie alle aus Ober-London stammten, fragte sich, was hinter ihren Augen vorging. Ein paar Tage nach seiner Begegnung mit Jessica glaubte er in der abendlichen Rush-hour Lamia am anderen Ende des Waggons zu sehen, mit dem Rücken zu ihm, die dunklen Haare hochgesteckt und das Kleid lang und schwarz. Sein Herz begann in seiner Brust zu hämmern.
Er drängelte sich durch das voll besetzte Abteil. Als er näher kam, fuhren sie in eine Haltestelle ein, und sie stieg aus. Doch es war nicht Lamia: bloß so ein junges Londoner Goth-Mädchen, stellte er enttäuscht fest, unterwegs zu einem Abend in der Stadt.
Eines Mittwochs sah er auf den Mülltonnen hinter den Newton Mansions eine große braune Ratte sitzen, die dreinschaute, als gehörte ihr die Welt.
Als Richard sich ihr näherte, sprang sie auf den Gehweg, wartete im Schatten der Mülltonne und starrte ihn aus schwarzen Augen an. Richard hockte sich hin.
»Hallo«, sagte er sanft. »Kennen wir uns?«
Die Ratte sagte nichts, aber sie lief auch nicht weg.
»Ich heiße Richard«, fuhr er mit leiser Stimme fort. »Ich bin kein richtiger Rattensprecher, aber ich, ähm, kenne ein paar Ratten, und ich wüßte gern, ob du eine Bekannte von Lady Door bist …«
Er hörte hinter sich einen Schuh scharren, und als er sich umdrehte, bemerkte er die Buchanans, die ihn neugierig anschauten.
»Haben Sie … etwas verloren?« fragte Mrs. Buchanan.
Richard hörte das barsche Flüstern ihres Mannes: »Nur ein paar Tassen aus dem Schrank«, doch er beachtete es nicht.
»Nein«, sagte Richard ehrlich. »Ich habe … jemandem Guten Tag gesagt, einer …«
Die Ratte huschte davon.
»War das eine Ratte?« bellte George Buchanan. »Ich werde mich bei der Behörde beschweren. Es ist eine Schande. Das ist wieder typisch London, was?«
Ja, pflichtete Richard ihm bei. Typisch.
Seine Sachen standen weiterhin unausgepackt in Teekisten mitten in seinem Wohnzimmer.
Er schaltete den Fernseher nicht ein. Er kam abends nach Haus und aß etwas. Dann stand er am Fenster und schaute hinaus auf London, auf die Autos und die Dächer und die Lampen, während die Dämmerung zur Nacht wurde und in der ganzen Stadt die Lichter angingen. Und schließlich zog er sich widerstrebend aus, stieg ins Bett und schlief ein.
Eines Freitagnachmittags kam Sylvia in sein Büro.
Er öffnete gerade Briefe, wobei er sein Messer – Hunters Messer – als Brieföffner benutzte.
»Richard?« sagte sie. »Ich wollte mal was fragen. Kommen Sie derzeit viel unter Menschen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nun ja, ein paar von uns gehen heute abend aus. Haben Sie Lust mitzukommen?«
»Ähm. Klar«, sagte er. »Ja. Liebend gern.«
Er haßte es.
Sie waren zu acht: Sylvia und ihr junger Mann, der etwas mit Oldtimern zu tun hatte, Garry aus der Buchhaltung, der sich kürzlich aufgrund eines Mißverständnisses von seiner Freundin getrennt hatte (er hatte geglaubt, sie würde verständnisvoller darauf reagieren, daß er mit ihrer besten Freundin schlief, als sie es tatsächlich tat, kaum daß sie es herausgefunden hatte), diverse nette Leute und Freunde von netten Leuten und das neue Mädchen aus der Computer-Service-Abteilung.
Erst sahen sie sich im Odeon am Leicester Square einen Film an. Der Gute siegte am Ende, und bis dahin gab es jede Menge Explosionen und umherfliegende Gegenstände.
Sie aßen im La Reache in der Old Compton Street und stopften sich mit Couscous und kleinen exotischen Knabbereien voll, und von da aus gingen sie auf einen Tip von Sylvia hin in einen Pub in der Berwick Street, und sie tranken ein paar Gläser, und sie schwatzten.
Das neue Mädchen aus der Computer-Service-Abteilung lächelte Richard im Laufe des Abends oft an, und er hatte ihr rein gar nichts zu sagen. Er gab eine Runde aus, und das Mädchen aus der Computer-Service-Abteilung half ihm, die Getränke an den Tisch zu bringen.
Garry ging aufs Klo, und das Mädchen aus der Computer-Service-Abteilung kam und setzte sich neben Richard, da, wo Garry gesessen hatte. Richards Kopf war voll von dem Klirren der Gläser und dem Plärren der Jukebox und dem Geruch von Bier und verschüttetem Bacardi und Zigarettenrauch. Er versuchte, den Unterhaltungen am Tisch zuzuhören, und er stellte fest, daß er sich auf nichts von dem, was gesagt wurde, konzentrieren konnte, und daß er sich für keinen der Gesprächsfetzen, die er verstand, interessierte.
Und da stand es ihm so deutlich vor Augen wie auf der großen Leinwand des Odeon am Leicester Square: Er würde heute mit dem Mädchen aus der Computer-Service-Abteilung nach Haus gehen, und sie würden miteinander schlafen, und da morgen Samstag war, würden sie den Morgen im Bett verbringen. Und dann würde er aufstehen, und sie würden zusammen seine Sachen aus den Teekisten auspacken, und in einem Jahr würde er das Mädchen aus der Computer-Service-Abteilung heiraten und noch einmal befördert werden, und sie würden zwei Kinder bekommen, einen Jungen und ein Mädchen, und sie würden hinaus in die Vorstadt ziehen, nach Harrow oder Croydon oder Hampstead oder sogar ins entlegene Reading.
Und es wäre kein schlechtes Leben. Auch das wußte er. Manchmal kann man einfach nichts tun.
Als Garry von der Toilette zurückkam, schaute er sich verblüfft um. Alle waren da, bis auf:
»Richard?« fragte er.
Das Mädchen aus der Computer-Service-Abteilung zuckte mit den Schultern.
Garry ging hinaus auf die Berwick Street. Die Kälte der Nachtluft wirkte wie eine Ladung Wasser ins Gesicht. Er schmeckte den Winter. Er rief: »Dick? Hey? Richard?«
»Hier drüben.«
Richard lehnte an einer Wand, im Schatten. »Wollte nur mal frische Luft schnappen.«