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»Ihr Bruder?« fragte Richard. »Müßten Sie dann nicht den gleichen Namen haben?«

»Ich bin beeindruckt. Was für ein kluger Kopf, Mister Vandemar. Ein wahrer Pfiffikus. Es gibt Menschen, die sind so scharfsinnig«, und er rückte näher an Richard heran und stellte sich direkt vor ihm auf die Zehenspitzen, »daß sie Gefahr laufen, sich zu schneiden.«

Richard trat einen Schritt zurück.

»Können wir hereinkommen?« fragte Mr. Croup.

»Was wollen Sie?«

Mr. Croup seufzte auf eine Weise, die er offenbar für äußerst wehmütig hielt. »Wir suchen unsere Schwester«, erklärte er. »Ein ungezogenes Kind, widerspenstig und dickköpfig, das unserer armen, lieben, verwitweten Mutter fast das Herz gebrochen hat.«

»Weggelaufen«, erläuterte Mr. Vandemar milde. Er drückte Richard ein fotokopiertes Papier in die Hand. »Sie ist ein bißchen … komisch«, fügte er hinzu, und er ließ einen Finger neben seiner Schläfe kreisen, um anzudeuten, daß das Mädchen ein Fall für die Klapsmühle sei.

Richard schaute sich den Zettel an.

Da stand:

HABEN SIE DESES MÄDCHEN GESEHEN?

Darunter war auf einem fotokopiegrauen Foto ein Mädchen abgebildet, das in Richards Augen wie eine ordentlichere, sauberere, langhaarige Ausgabe der jungen Dame aussah, die er in seinem Badezimmer beherbergte.

Darunter stand:

Hört auf den Namen Doreen. Beißt und tritt. Ist weggelaufen. Informieren Sie uns, wenn Sie sie gesehen haben. Wir wollen sie wiederhaben. Belohnung.

Und darunter eine Telefonnummer.

Richard schaute wieder das Foto an. Das war eindeutig das Mädchen in seinem Badezimmer.

»Nein«, sagte er. »Ich fürchte, ich habe sie nicht gesehen. Tut mir leid.«

Mr. Vandemar hörte jedoch gar nicht zu. Er hatte den Kopf gehoben und schnüffelte, als röche er etwas Seltsames oder Unangenehmes. Richard wollte ihm das Blatt Papier zurückgeben, doch der Mann schob sich einfach an ihm vorbei und betrat die Wohnung, ein Wolf auf der Pirsch.

Richard lief ihm nach.

»Was fällt Ihnen ein? Lassen Sie das! Raus hier! Hören Sie, Sie können da nicht reingehen – « Denn Mr. Vandemar bewegte sich direkt auf das Badezimmer zu.

Richard hoffte, das Mädchen – Doreen? – war so geistesgegenwärtig gewesen, die Badezimmertür abzuschließen. Doch nein; die Tür ging auf, als Mr. Vandemar dagegenstieß. Er trat ein, und Richard, der sich wie ein harmloser kleiner Hund fühlte, der dem Briefträger kläffend an den Fersen hing, folgte ihm.

Es war kein großes Badezimmer. Es befanden sich eine Badewanne, eine Toilette, ein Waschbecken, ein paar Flaschen Shampoo, ein Stück Seife und ein Handtuch darin. Als Richard es vor ein paar Minuten verlassen hatte, hatten sich außerdem ein ziemlich schmutziges, blutiges Mädchen, ein sehr blutiges Waschbecken und ein offener Erste-Hilfe-Kasten darin befunden. Jetzt war es strahlend sauber.

Es gab nichts, wo das Mädchen sich hätte verstecken können.

Mr. Vandemar verließ das Badezimmer und stieß die Schlafzimmertür auf, ging hinein, schaute sich um.

»Ich weiß nicht, was Sie vorhaben«, sagte Richard. »Aber wenn Sie beide meine Wohnung nicht auf der Stelle verlassen, rufe ich die Polizei.«

Da wandte sich Mr. Vandemar, der gerade dabei gewesen war, Richards Wohnzimmer zu inspizieren, Richard zu, und dieser stellte plötzlich fest, daß er schreckliche Angst hatte, wie ein kleiner Hund, der gerade merkte, daß das, was er für einen Briefträger gehalten hatte, in Wirklichkeit ein riesiger hundefressender Außerirdischer aus der Art Film war, für die Jessica keine Zeit hatte.

Richard ertappte sich dabei, wie er überlegte, ob man zu jemandem wie Mr. Vandemar sagte: »Tun Sie mir nicht weh!«, und wenn ja, ob das überhaupt etwas nützen würde.

Und dann sagte Mr. Croup, verschlagen wie ein Fuchs: »Aber, aber, was ist denn nur in Sie gefahren, Mister Vandemar? Ich möchte wetten, der Kummer um unser geliebtes Geschwisterlein hat ihn um den Verstand gebracht. Bitten Sie den Herrn um Verzeihung, Mr. Vandemar.«

Mr. Vandemar nickte und überlegte einen Moment. »Dachte, ich müßte mal zur Toilette«, sagte er. »Mußte doch nicht. ’Tschuldigung.«

Mr. Croup begann den Flur entlangzugehen.

»Na also. Nun, ich hoffe, Sie vergeben meinem ungezogenen Bruder seine fehlenden Manieren. Ich bin sicher, vor lauter Sorge um unsere liebe, arme, verwitwete Mutter und um unsere Schwester, die just in diesem Moment durch die Straßen Londons streift, ohne jemanden, der sie liebt und sich um sie kümmert, ist er nicht mehr recht bei Sinnen. Aber dennoch ist er ein guter Mensch, und es ist schön, ihn an meiner Seite zu wissen. Ist es nicht so, strammer Geselle?«

Sie gingen jetzt aus der Tür ins Treppenhaus. Mr. Vandemar sagte nichts. Er sah nicht so aus, als sei er vor Kummer nicht mehr recht bei Sinnen.

Croup wandte sich zu Richard um und probierte noch ein füchsisch verschlagenes Lächeln. »Sie sagen uns Bescheid, wenn Sie sie sehen«, sagte er.

»Auf Wiedersehen«, sagte Richard. Dann machte er die Tür zu und schloß sie ab. Und zum ersten Mal, seit er hier wohnte, legte er die Sicherheitskette vor.

»Bin nicht fett«, sagte Mr. Vandemar.

Mr. Croup, der sofort das Telefonkabel gekappt hatte, als Richard gesagt hatte, er wolle die Polizei rufen, und sich jetzt fragte, ob es die richtige Schnur gewesen war – schließlich war die Technik des zwanzigsten Jahrhunderts nicht gerade seine Stärke –, nahm ihm ein Flugblatt aus der Hand.

»Das habe ich nie behauptet«, sagte er. »Spucken!«

Mr. Vandemar hustete einen Mundvoll Schleim hoch und spuckte ihn säuberlich auf die Rückseite des Handzettels. Mr. Croup klatschte das Plakat mit Wucht an die Wand neben Richards Tür. Es blieb sofort kleben, und zwar bombenfest.

HABEN SIE DIESES MÄDCHEN GESEHEN? fragte es.

»›Strammer Geselle‹ haben Sie gesagt. Heißt fett.«

»Stramm heißt auch mutig, kühn, beherzt, furchtlos, wacker, tapfer, forsch, mannhaft, bravourös und unverzagt«, sagte Mr. Croup. »Glauben Sie ihm?«

Sie gingen die Treppe hinab.

»Papperlapapp«, sagte Mr. Vandemar. »Ich hab’ sie gerochen. «

Richard wartete hinter seiner Wohnungstür, bis er ein paar Stockwerke tiefer die Haustür zuschlagen hörte. Als er gerade den Flur entlang zurück zum Badezimmer ging, ließ ihn ein lautes Telefonklingeln zusammenzucken.

Er sprintete den Flur zurück und nahm den Hörer ab. »Hallo?« sagte Richard. »Hallo?«

Kein Geräusch drang aus dem Hörer. Statt dessen klickte es, und Jessicas Stimme kam aus dem Anrufbeantworter auf dem Tisch neben dem Telefon. Sie sagte: »Richard? Hier ist Jessica. Es tut mir leid, daß du nicht da bist, denn dies wäre unser letztes Gespräch gewesen, und ich wollte es dir so gern persönlich sagen.«

Das Telefon, stellte er fest, war völlig tot. Am Hörer hingen noch etwa dreißig Zentimeter Kabel, das am Ende sauber durchtrennt war. Er brüllte trotzdem hinein, Dinge wie »Jessica!« und »Ich bin da!« und »Bitte leg nicht auf!«

»Du hast mich gestern abend zutiefst blamiert, Richard«, fuhr die Stimme fort. »Ich betrachte unsere Verlobung als gelöst. Ich habe weder vor, dir den Ring zurückzugeben, noch dich jemals wiederzusehen. Ich hoffe, du und deine lahme Ente verfaulen in der Hölle. Leb wohl.«

»Jessica!« schrie Richard, in der Hoffnung, das Telekommunikationsnetzwerk vielleicht mit Hilfe reiner Lautstärke zu durchdringen.

Das Band hörte auf, sich zu drehen, es klickte noch mal, und die kleine rote Lampe begann zu blinken.