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Jenny-Mai Nuyen

Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Das Erste Buch

Die Bibliothek

Hasenjagd

Inspektor Bassar

Der tote Junge

Mottentochter

Die Gesellschaft

Lieferung in der Nacht

Rot

Der Einbrecher

Eine Nacht im Treppenhaus

Der Weg

Vogelschau für Bassar

Zum Teeladen

Die Dichter

Vampas Bücher

Die Wahrheit

Hilfe

Ein Hinweis

Zusammen

Der Zug

Bassars Plan

Hochzeitskuchen

Ein behüteter Bericht

Nachricht von Knebel

Caer Therin

Das Zweite Buch

Gut und Böse

Das Buch der Antworten

Die Schülerin

Der Meister

Die Gaben

Enttarnt

Das Mädchen Loreley

Dunkelheit

Tage dazwischen

Neujahr

Nacht der Motten

Raum und Zeit

Nocturna

Ein Buch

Ein Wort der Autorin

Danksagung

Copyright

Auf Erden wandeln alle blind,

Geeint durchs Wort - welch loser Bund!

Verschweigt es doch, wer Menschen sind -

Hätte ich nur ein Licht im Mund!

Prolog

Am Abend traf sich Jorel mit dem Mädchen. Draußen waren die Straßen in rotes Dämmerlicht getaucht, doch in Eck Jargo herrschte allgegenwärtig Nacht. Am dunklen Ausschank, über den sich die Wurzeln der Wiegenden Windeiche breiteten, stand sie und nippte an ihrem Getränk.

»Bonni.« Sie drehte sich um, als er ihren Namen direkt hinter ihr raunte. Sein Herz machte, wie schon einmal, einen kleinen Sprung, als er ihr Gesicht erblickte: Es sah aus wie von einer Porzellanpuppe, blass und fein, und stellte einen verblüffenden Kontrast zu ihrem grauweißen Haar dar.

»Hallo«, sagte sie.

»Hast du’s wem verraten?«, fragte er ohne Umschweife.

Sie schüttelte den Kopf.

Er verzog den Mund zu einer Seite und spitzte die Lippen, so wie immer, wenn er nervös war oder nachdachte. »Ich hätte ja auch so rausgefunden, ob du mein Geheimnis verrätst. Früher oder später.«

Bonni nickte gelassen. »Deine Frage. Du bist wegen deiner Frage hier ...«

Er lehnte sich näher vor. In den Schatten des Raumes hörte er Stimmen tuscheln, dunkle Mäntel rauschen und Messer aufklappen - keine ungewöhnlichen Geräusche in Eck Jargo.

»Du hast gesagt, du weißt, wer mir Antwort geben kann.« Erneut verzog er den Mund, dann beugte er sich an ihr Ohr und flüsterte: »Ich will es unbedingt - ich will es endlich wissen! Wieso können wir es? Warum haben wir es, diese Sache?«

»Die Gabe«, korrigierte Bonni ihn mit einem Lächeln.

»Nenn es, wie du willst«, gab er unwirsch zurück. Kurz fürchtete er, Bonni sei beleidigt. Aber ihr Blick verschleierte sich und ein seltsamer Ausdruck versteinerte ihre Züge. Sie schlug einen gleichgültigen, hellen Ton an, bei dem Jorel schauderte:

»Deine sehnlichste Frage wird beantwortet, wenn du ein Mädchen findest. Nur eine bringt dir die Antwort. Eine, die Ratten tanzen lässt, Schnürsenkel nicht binden kann und ein Herz besitzt, so scharf wie ihr Verstand.«

Jorel zog die Augenbrauen zusammen. »Was? Also -

Bonni, die mit den Augen blinzelte, als hätte sie zu lange in die Sonne geblickt, zuckte die Schultern. »Mehr kann ich dir nicht sagen, Jorel.«

Er ließ sich mit dem Rücken gegen die Theke sinken und starrte ungläubig vor sich hin. »Meine sehnlichste Frage ... Ich muss also ein Mädchen finden. Eine, die Ratten tanzen lässt, Schnürsenkel nicht binden kann ... ein Herz hat, so scharf wie ihr Verstand ...« Plötzlich lächelte er, nahm Bonni das Glas aus der Hand und kippte das Malzbier in einem Zug runter. Der bittere Geschmack minderte seine Heiterkeit keineswegs. »Na, ein Mädchen ist immerhin besser als ein haariger Fettsack oder Fischverkäufer oder wen es sonst noch so hätte treffen können, nicht wahr?«

»Wer hat gesagt, dass ein Mädchen kein haariger Fettsack sein kann?«

»Oh - warte mal. Was weißt du? Was hast du noch gesehen? Ist sie - he, warte!«

Während Jorel deutlich blasser um die Nasenspitze wurde, glitt Bonni von der Theke weg, und einen Augenblick später hatten die flüsternden Schatten von Eck Jargo sie verschluckt.

Das Erste Buch

Die Bibliothek

Er sah Bücher. Hunderte davon. Der Mondschein, der durch die hohen Fenster fiel, überzog die unzähligen Buchrücken und die Wandregale mit einem silbernen Schleier. Bord um Bord türmten sich in Kalbsleder gebundene Folianten, schlanke Poesiebände und schwarze, mit goldenen Ranken verzierte Bibeln. Der Junge suchte die Titel der Bücher ab, die Worte schwirrten ihm durch den Kopf wie Schatten und zerfielen, sobald er den Blick abwandte. Lautlos formten seine Lippen mit: Dantes Inferno - Grimms Märchen - Goethes Gesammelte Werke ... Dann erspähte der Junge ein rotes Buch in der obersten Regalreihe. Es war tief zurückgeschoben und verschwand beinahe zwischen den anderen Büchern.

Leder, rotes Leder.

Sein Rücken kribbelte. Er streckte die Hände aus und kletterte an den Regalen empor, bis er das Buch hervorziehen konnte. Es hatte keine Aufschrift, war schwer und schlicht. Ihm wurde ganz schwindelig vor Hoffnung. So einfach war er an das Buch gekommen! Und wenn es das richtige war ...

Er schob sich das Buch in den Hosenbund und wollte sich wieder auf den Boden hangeln. Jetzt nur noch denselben Weg nach draußen wie vorher rein, schnell und leise, ganz unbemerkt, und dann war er -

Am fernen Ende der Bibliothek knarrte eine Tür. Schritte klapperten über die Marmorfliesen. Der matte Schein einer Öllampe irrte durch die Regalreihen.

Der Schreck lähmte ihn nur kurz, schnell und geräuschlos wie eine Spinne zog er sich wieder hoch und kletterte weiter in Richtung Fenster. Seine Finger gruben sich in die dünne Staubschicht des obersten Regals und hinterließen feuchte Abdrücke. Einer der Fensterbogen war gekippt, gerade weit genug, dass ein schlanker Jugendlicher hindurchpasste.

Der Fremde war unter ihm angekommen. Der Junge hielt sofort inne, dicht an die staubigen Bücher gedrückt, und hörte auf zu atmen.

Ein Mann in einem roten Morgenmantel und Samtpantoffeln war im Lichtkreis zu sehen. Langsam führte er die Lampe am Regal entlang, als suche er nach einer Lücke in der makellosen Reihe. Staub tanzte im goldenen Schein der Flamme. Dann schien das Licht sich lang zu machen, griff Reihe um Reihe in die Höhe, glitt über die Bücher hinweg ... und erfasste einen alten Schuh. Der Junge stand mit den Zehenspitzen auf dem Regal, zwei Meter über dem Mann.

Der Mann riss den Mund auf. »Einbrecher! Hilfe - stehen bleiben!«

Irgendwo bellten Hunde. Aufgeregt deutete der Mann in die Höhe, Bücher flogen aus dem Regal und schlugen mit flatternden Seiten rings um ihn zu Boden. Ein Schatten glitt zum Fenster - dann war er durch den Spalt geschlüpft und sprang an das Regenrohr.