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Es fiel ihm anfangs schwer, aufs Essen zu verzichten. Nach einer Woche spürte er den Hunger nur noch als steten, pochenden Schmerz, der seine Existenz überschattete. Nach einem Monat wurde ihm häufig schwindelig, er fiel in Ohnmacht oder wurde kurzfristig blind. Andere Male bekam er Bauchkrämpfe, ihm wurde eiskalt, während sein Magen heiß brannte, und ihm fielen die Haare aus - aber jeden Morgen waren sie wieder da, nur um aufs Neue auszufallen. Er konnte nicht einmal verhungern.

Schließlich ging er zu Dotti nach Eck Jargo und bat sie um Arbeit, damit er wieder essen konnte. Er brauchte das Essen nicht - nach jeder Nacht war er ja wieder so wohlgenährt wie am Morgen davor -, und doch musste er essen, damit die Schwindelanfälle und Krämpfe vergingen.

Eine Weile putzte er Gläser in der Wiegenden Windeiche, aber dabei verlor er ganze Nächte, obwohl er doch nach dem Buch suchen musste ... Er brauchte eine andere Arbeit. Als er Dotti bat, ihn boxen zu lassen, willigte sie ein. Sie erlaubte ihm alles, verwehrte ihm nichts.

Ob er ihr dankbar war? Vampa wusste es nicht. Er fühlte nichts für Dotti, so wie er für einen Stein, einen Stock, ein Blatt nichts gefühlt hätte. Ebenso wenig empfand Vampa, als er das erste Mal in Bluthundgrube antrat.

Die Zuschauer grölten vor Erregung, und Vampas Gegner, ein Mann wie ein Stier, glühte ihn an, bereit, ihn zwischen den Fäusten zu zermalmen.

»Nimm ihn auseinander!«, schrien die Zuschauer in roher Begeisterung und flatterten mit ihren Wettzetteln. »Brech den Burschen entzwei

Der Boxring war nur durch Seile vom Publikum getrennt. Die Klingel schrillte. Schon traf Vampa die Faust seines Gegners am Kopf. Die Wucht ging ihm durch die Knochen wie der Einschlag einer Bombe. Er fiel gegen die Seile und wurde von hundert heißen, begierigen Händen zurück in den Ring gestoßen. Vampa stolperte gegen den Boxer. Er spürte nicht mehr, wo ihn der nächste Schlag traf, er wusste nur noch von den Wellen des Schmerzes, die ihm durch den Körper rollten und in tausend dröhnende Lärmsplitter zerschellten. Der Schmerz war fern, mehr so wie das unangenehme Gefühl, das man hat, wenn man von intensiven Schmerzen liest.

Als Vampa zu sich kam, kümmerten sich die Tänzerinnen aus der Roten Stube um ihn. Langsam schlug er die geschwollenen Augen auf, und manche Tänzerin stieß Schreie aus, denn sie hatten ihn für tot gehalten. Kein Zahn war ihm geblieben und sein Rückgrat war gebrochen.

Am nächsten Abend trat er gegen denselben Boxer wie am Vortag an. Es war das erste Mal, dass er Bluthundgrube vollkommen geräuschlos erlebte. Keiner gab einen Mucks von sich. Die Gäste starrten den Jungen an wie einen Geist. Aufrecht stand er im Ring mit seinem Rücken, der nicht mehr gebrochen war, und seiner Nase, gerade und scharf geschnitten ohne die blutigen Risse.

Da begann der Boxer vor ihm zu schluchzen. Er stolperte zurück, seine Augen wurden irr. Vampa versetzte ihm einen Kinnschlag, und der Mann ließ sich auf den Boden fallen, wo er wimmernd im Nassen liegen blieb. Dabei fühlte Vampa nichts für ihn. Keine Befriedigung und kein Mitleid. Nichts für die stummen Zuschauer. Nichts für sich selbst.

Vampa wurde eine Legende in Eck Jargo. Manche kamen allein, um zu sehen, wie der Vampirjunge totgeprügelt wurde und am nächsten Tag unversehrt weiterkämpfte. Bald kursierten die verrücktesten Gerüchte über ihn - einige behaupteten sogar, dass in ihm der Geist des Paolo Jargo lebte. Das alles wurde hinter seinem Rücken geflüstert. Denn den merkwürdigen Jungen anzusprechen, traute sich niemand. Inmitten der Diebe und Verbrecher, der Geheimbünde und Verschwörer blieb Vampa allein. Er wandelte durch das Leben und war nicht mehr als ein Gerücht; eine flüchtig erzählte Geschichte.

Vampa scherte es nicht. Nichts war von Bedeutung. Und obwohl es Vampas einziges Ziel war, daran etwas zu ändern, konnte er nicht einmal seine Gleichgültigkeit hassen. Er kannte keinen Hass, keine Furcht, keine Liebe. Wie ein Bild, das er nicht schön und nicht hässlich fand, betrachtete er das Leben und Sterben der Männer, die in Eck Jargo ihre letzte Zuflucht suchten.

Eck Jargo bestand aus acht verschiedenen Abteilen, den Acht Ecken: dem Mauseloch, der Wiegenden Windeiche, Himmelszelt, der Roten Stube, dem Glückspalast, Bluthundgrube, dem Laternenreich und Labyrinth. Jede Ecke war ein neuer, auf Entdeckung wartender Kontinent in der Welt Eck Jargo.

Die Wiegende Windeiche glich einer muffigen Kapelle, in der man die Stimme aus Ehrfurcht vor den unsichtbaren und doch stets allgegenwärtigen Mächten nicht lauter als nötig zu erheben wagte. Unter den Wurzeln, die sich durch die gesamte Decke zogen, herrschte ewige Dunkelheit. Wer ein heimliches Treffen abhalten wollte, war hier richtig. Himmelszelt bestand aus einem langen Korridor und unzähligen Zimmern zum Vermieten, denn das war es, was die meisten in Eck Jargo suchten: den traumlosen Schlaf des Friedens. Auch das Laternenreich bot den Schutz einer ungestörten Nacht. Auf Diwanen im schummrigen Schein der Öllampen betörte der Zauber des Fernen Ostens die Sinne ... der Zauber hieß Opium. Schmerz, Sorgen, Zeit, alles versprach das süße Gift zu tilgen, und wer einmal von seiner himmlischen Lähmung gekostet hatte, verließ das Laternenreich entweder bankrott oder tot. Wer sich nach irdischem Spaß sehnte, der war am besten aufgehoben im Mauseloch, dem berühmten Ausschank, oder in der Roten Stube bei den Tänzerinnen, im Glückspalast, wo ununterbrochen Poker gespielt wurde und das Geld schneller durch die Hände ging als die Karten, oder in Bluthundgrube, wo man alles finden konnte, was mit Schmerz und Gewalt zu tun hatte. Und dann gab es noch Labyrinth. Es war die berüchtigte Ecke von Eck Jargo, die am tiefsten unter der Erde lag, legendenumrankt und gefürchtet. Labyrinth war Treffpunkt zahlreicher verbotener politischer Parteien, Verschwörer gegen die Regierung, Räuberbanden und religiöser Sekten - manchmal auch alles auf einmal. Niemand musste hier Angst vor Spionen haben, denn Labyrinth war tatsächlich so groß, dass man sich ohne die tauben Wächter verirrt hätte, die pausenlos ihre Runden machten. Gerüchte, dass es in Labyrinth einen geheimen zweiten Eingang zu Eck Jargo gab, hielten sich hartnäckig unter den Leuten. Es hieß, verlassene Kanalschächte erstreckten sich unter der gesamten Stadt, die den Behörden nicht mehr bekannt waren. Irrwege, die frühere Schmuggler in die Erde gegraben hatten - davon waren manche überzeugt -, lägen unter den Fundamenten der Häuser, Kathedralen und Gardeplätze: Irrwege, in denen Leute wandelten, die selbst für Eck Jargo zu finster waren, wenn das überhaupt möglich war.

Vampa lebte an alldem vorbei, ohne sich dafür zu interessieren. Sein ganzes weniges, kostbares Interesse galt dem Buch. Dem roten Buch mit der dunkelroten Tinte.

»... Blut! Blut! Blut! Blut!« Die einstimmigen Rufe der Zuschauer dröhnten im ganzen Keller. Und dann, ein lang gezogenes »Aaaaahhhhh ...«

Vampa richtete sich auf. Der Metzger zu seinen Füßen regte sich nicht. Noch wankend strich sich Vampa die schweißnassen Haare aus der Stirn und wandte sich um. Der Schiedsrichter riss seine Faust in die Höhe und kürte ihn unter tosendem Beifall zum Sieger. Das Publikum bejubelte ihn so ohrenbetäubend, als hätte er ihnen allen das Leben gerettet.