Als Magdalena ermordet und unser Plan verraten wurde, hätte Morbus wahrscheinlich noch mehr getan, wenn es Neveras Wunsch gewesen wäre. Was sie zusammenhielt, muss mehr als eine emotionale Bindung gewesen sein - Morbus muss geglaubt haben, dass niemand seine Gaben so zum Einsatz bringen konnte wie Nevera. Sie holte das Beste aus ihm heraus, da es auch in ihrem Interesse lag, und so blieb er ihr gegenüber bis heute in jeder Hinsicht loyal. Offenbar nicht zu seinem Schaden, schließlich sind sein jetziger Reichtum und Stand zu großen Teilen Neveras Verdienst. Ich wette, dass es ihre Idee war, den vergreisten Grafen von Therin zu manipulieren, sodass er kurz vor seinem Tod Morbus adoptierte.
Doch davor musste sie sich noch um ihren eigenen Aufstieg kümmern. Ich habe später erfahren, dass sie deinen Onkel Elias bei Magdalenas Begräbnis kennenlernte; ich selbst konnte Magdalena natürlich nicht die letzte Ehre erweisen, ich wurde als gefährlicher Terrorist gesucht, während Nevera ihren künftigen Gatten betörte. In kürzester Zeit waren die beiden liiert. Ohne Zweifel war es Nevera, die dafür sorgte, dass Elias die Todesstrafe für die beiden gefassten TBK-Mitglieder durchsetzte - ob auch Morbus seine Finger im Spiel hatte und sie mit den passenden Blutsätzen ausstattete, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, wie er auf ihre Verlobung mit Elias reagierte. So oder so - auf lange Sicht tat auch das der Innigkeit ihrer Beziehung keinen Abbruch. Nevera muss ihn überzeugt haben, dass ihre Liaison mit Elias ein Mittel zum Zweck war, und wie immer glaubte Morbus ihr. Im Verlauf der Jahre hat er wohl selbst gemerkt, wie vorteilhaft es ist, einen angesehenen Juristen unter Kontrolle zu haben. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sie Elias nicht längst aus dem Weg geräumt haben, als Morbus wohlhabend genug war, um Neveras Ansprüchen gerecht zu werden. Jeder andere, der ihnen in die Quere gekommen ist oder ihnen nicht mehr dienlich war, wurde sofort beseitigt.« Collonta hielt inne und dachte eine Weile über seine eigenen Worte nach.
»Es ist doch erstaunlich... nur die Zeit trennt mich von dem Augenblick, da Morbus hier neben mir stand und meine Hand auf seiner Schulter ruhte - als er mir von der Kunst erzählte und dass er selbst ein großer Künstler werden wollte. Und Nevera... wer hätte gedacht, dass aus Magdalenas kleiner Schwester, aus diesem unscheinbaren, talentlosen Geschöpf, einmal die Erzfeindin des Treuen Bunds würde? Dass sie einmal die Macht über das ganze Land an sich reißen würde?« Er schien fast mit sich selbst zu reden und ein eigentümliches Lächeln lag auf seinem Runzelgesicht. Dann sah er Apolonia an.
»Ja ... mir ist bewusst, dass Nevera kurz davor ist, die Herrschaft an sich zu reißen. Ich weiß, nichts kann sie mehr aufhalten, sobald der Treue Bund vernichtet ist. Und ich weiß, dass du dich auf die Seite der Dichter gestellt hast... Trotzdem stirbt die Hoffnung zuletzt.
Nevera hat von Anfang an ein Ziel verfolgt: ihre eigene Macht zu vergrößern. Als sie gesellschaftlich nicht weiter aufsteigen konnte, hat sie sich der Politik zugewandt. Statt kostbarer Kleider und verschwenderischer Feste begehrt sie nun Länder und Armeen. Bei Morbus bin ich mir nicht sicher, ob er noch immer um der Kunst willen Neveras Verbrechen ausführt oder ob sie ihn schließlich ganz von ihrem Begehren überzeugt hat. Trotzdem sind beide skrupellos und beide sind sich der Grausamkeit ihrer Taten bewusst - die Verwirklichung ihrer Pläne bedeutet ihnen mehr als jedes Menschenleben. Sie sind exzellente Schauspieler, und, ich gebe zu, die Kombination aus Intelligenz und Bosheit, aus ihrer innigen Liebe und absoluten Verachtung für jeden Außenstehenden umweht eine Aura der Faszination. Es ist keine Schande, ihre heimtückischen Begierden mit Romantik zu verwechseln, auf ihr falsches Spiel hereinzufallen; auch ohne Blutsätze manipulieren sie die schlausten Männer und Frauen und führen jeden hinters Licht. Sie haben mich hinters Licht geführt ... bevor sie es mit dir getan haben.«
Apolonia schwieg. Dann blähte sie die Nasenflügel und ihr Kinn begann zu beben. »Ich glaube Ihnen nicht.« Und ihre Stimme wurde zu einem Flüstern: »Es ist viel zu spät.«
Collonta sah Loo an. »Rettung, Hilfe - dafür kann es zu spät sein. Aber für die Wahrheit - nein. Für die Wahrheit niemals.« Er drehte sich halb um und runzelte die Stirn. Fast trat ein fröhlicher Ausdruck auf sein Gesicht, als er den Kopf schüttelte. »Ach, Nevera! Nun ist der Zeitpunkt also gekommen, dass wir uns noch einmal sehen.« Er klopfte mit dem Gehstock auf den Boden und der Grüne Ring erschien in der Luft. »Komm, Loo.«
Loo starrte Apolonia durchdringend an. Dann sagte sie in dem leichten, ernsten Ton einer Verrückten:
»Und wenn du fertig bist... dann bist du wirklich eine Dichterin. Das erste weibliche Mitglied, wenn man es genau nimmt, da Nevera nie selbst ein Buch geschrieben hat.«
Collonta warf Apolonia einen langen Blick zu; dann fasste er Loo behutsam am Arm und verschwand mit ihr im Grünen Ring.
Fassungslos starrte Apolonia auf die Stelle, wo die runde Tür verschwunden war. Was Loo gesagt hatte - das hatte Morbus gesagt, bevor Apolonia das Blutbuch geschrieben hatte. Sie hielt sich zitternd am Tisch fest. Als sie die Wahrheit begriff, weigerte sich ein Teil von ihr immer noch, sie zu akzeptieren. Dann vergrub sie das Gesicht in der Hand und begann, lautlos zu weinen.
Tigwid lehnte keuchend am Rand des Ganges und beobachtete, wie die Geisterherren gegen die Polizei ankämpften. Kairo, Laus, Fredo, Mart und Fuchspfennig richteten ihre Energiestöße auf verschiedene Schützen, doch es kamen immer mehr Blauröcke. Der einzige Grund, weshalb sie nicht alle schon festgenommen oder erschossen waren, war der, dass die Polizei von den vielen Verbrechern und Dieben abgelenkt wurde, die ebenfalls in den Kampf um den Untergrund verwickelt waren. Niemand wusste, wer zum TBK gehörte und wer nicht, sodass die Polizisten einfach jeden als mutmaßlichen Terroristen betrachteten.
Neben Tigwid kauerten Zhang, Bonni und Emil, die wie er keine kampftauglichen Gaben besaßen. Die Angst stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Tränen malten Spuren über Zhangs schmutzige Wangen.
Plötzlich stieß Kairo einen Schrei aus und taumelte zu Boden: Eine Kugel hatte ihn im Oberschenkel getroffen. Tigwid und Zhang zerrten ihn rasch in Sicherheit.
»Wir... müssen... weg hier!«, rief Fuchspfennig, schleuderte einen letzten Polizisten gegen die Wand und taumelte zu ihnen. Auch Mart, Laus und Fredo zogen sich einer nach dem anderen zurück. Zusammen flohen sie durch den Gang, bogen nach rechts ab, rannten gerade rechtzeitig in eine zweite Abzweigung, bevor die Kugeln eines Polizeitrupps sie durchsieben konnten.
»Wo ist Erasmus?«, rief Zhang gegen den Lärm des Gefechts an.
»Er wollte Loo in Sicherheit bringen - sie müssen in seinem Zimmer sein!«
»Wie kommen wir dahin?«, schrie Laus verzweifelt.
Fuchspfennig beschleunigte seine Schritte und rannte den anderen voran. »Ich kenne den Weg zur Geheimtür - mir nach!«
Tigwid, der mit Mart zusammen Kairo stützte, rang nach Atem. Das Blut, das Kairo aus der Schusswunde quoll, tropfte ihm auf den Schuh. Wenn sie nicht schnell Collonta und den Grünen Ring fanden, waren sie alle verloren. Es war nicht schwer zu erkennen, dass die Dichter hinter dem Polizeiüberfall steckten. Wer auch immer vom Treuen Bund festgenommen wurde, würde gewiss nicht in einer Zelle landen, sondern in einem Blutbuch.
Fuchspfennig führte sie geradewegs in eine Sackgasse. Kurz überkam Tigwid Panik - dann erkannte er im flackernden Licht der Lampe eine geheime Tür in der Wand. Sie war halb geöffnet.
Sie schleppten sich das letzte Stück darauf zu und Kairo biss die Zähne zusammen. Fuchspfennig schob das Regal zur Seite und sie stürzten fast gleichzeitig ins Zimmer.