Alles, was dann geschah, kam Tigwid vor wie in Zeitlupe. Eigentlich dauerte es nur Sekunden, bis er das erschrockene Luftschnappen hörte, den Kopf hob und Apolonia hinter dem Schreibtisch entdeckte; doch sein Gehirn verarbeitete diese Informationen mit lähmender Langsamkeit.
Die anderen konnten schneller handeln. Ehe Tigwid recht begriff, dass Apolonia in Collontas geheimem Arbeitszimmer stand, hatten Fredo, Fuchspfennig und Zhang ihre Kräfte auf sie losgelassen. Mit einem Aufschrei wurde sie gegen die Bücherregale geschleudert und fiel zu Boden. Schon waren Fredo und Zhang über ihr, zerrten sie hoch und verdrehten ihr die Arme. Blut rann ihr aus der Nase, ihr Haar hing ihr strähnig ins Gesicht und rauchte an den Spitzen.
»Wo sind Erasmus und Loo?!« Apolonia wäre hingefallen, hätte Fredo sie nicht gepackt.
»Was tun wir jetzt mit ihr?«, fragte Laus ängstlich.
»Erasmus und Loo sind nicht da, das heißt, wir müssen uns selbst um unsere Flucht kümmern«, erwiderte Fuchspfennig, der bereits die Kisten mit dem Dynamit unter dem Schreibtisch hervorgeholt hatte und Mart und Emil zwei davon reichte. »Die Dichterin können wir umbringen oder einsperren, mitnehmen können wir sie nicht.«
Fredo hielt Apolonia so grob vor sich, dass nicht schwer zu erkennen war, welche Option er bevorzugte.
»Ich sage, wir bringen sie in einen Bunker. Wenn wir hier rauskommen, können wir sie als Druckmittel gegen die Dichter verwenden«, schlug Zhang vor. »Und wenn wir nicht rauskommen, Pech für sie. Wir werden dafür sorgen, dass niemand außer uns sie je finden wird.«
»Dann ist das also klar.« Fuchspfennig nahm die letzte Kiste Dynamit und ging auf die Tür zu. »Beeilen wir uns.«
Tigwid stand reglos neben dem Regal, als die anderen den Raum verließen. Als Fredo Apolonia an ihm vorbeistieß, schien es, als husche ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Jetzt ... bin ich nicht mehr blind.«
Tigwid war der Einzige, der sie hörte. Dann hatte Fredo sie durch die Tür geschoben.
Die Bundmotten zerrten Apolonia durch die Irrgänge, bis Fuchspfennig stehen blieb und Mart und Fredo einen mächtigen Pflasterstein aus dem Boden hoben, unter dem sich ein geheimer Bunker befand. Eine Leiter führte in die Finsternis. Die Motten stießen Apolonia hinunter. Noch bevor sie die Sprossen ganz hinabgeklettert war, wurde der Stein wieder über die Öffnung geschoben, und sie blieb in undurchdringlicher Schwärze zurück.
Mit einem zitternden Atemzug ließ sie die Leiter los, taumelte und sank auf kalten, feuchten Boden. Dort blieb sie liegen und wagte nicht, sich zu rühren. Ihr heiseres Atmen klang erschreckend laut in der Finsternis. Nach einer Weile streckte sie die Hände aus, wischte sich das Blut von der Nase und betastete den Boden, doch sie konnte sich aus Angst nicht vom Fleck bewegen. Sie grub die Fingernägel in die Erde, presste das Gesicht in den Boden und schluchzte.
Ihr ganzer Rücken brannte vom Angriff der Motten. Die Finsternis ringsum ließ ihr Herz vor Panik rasen. Aber kein Schmerz, kein erdenklicher Schmerz war so entsetzlich wie der darüber, dass sie ihre Feinde nicht erkannt, sondern unterstützt - und bewundert hatte.
Immer wieder hörte sie Loo, die Morbus’ Worte wiederholte ... Und wenn du fertig bist ... dann bist du wirklich eine Dichterin. Das erste weibliche Mitglied, wenn man es genau nimmt, da Nevera nie selbst ein Buch geschrieben hat.
Apolonia weinte, rieb die Stirn gegen die Erde, schüttelte den Kopf, schüttelte ihn immer wieder. Wie hatte sie so dumm sein können? Wie hatte sie es überhören können? Er hatte gesagt, dass sie die erste Dichterin sein würde... Ihre Mutter war also nie eine Dichterin gewesen.
Magdalena hatte auf der Seite des Treuen Bunds gekämpft. Morbus hatte sie nie besucht, hatte nie an den Riten im Salon teilgenommen. Und die Fremde, mit der Magdalena in der Nacht ihres Todes gestritten hatte - das war eine Frau gewesen. Nevera.
»Mama«, schluchzte Apolonia in die Schwärze, in die Stille, in ihr Grab. »Mama, Papa! Gott, Vampa... Tigwid... es tut mir so leid. Es tut mir so leid!«
Sie hatte alles falsch gemacht. Wahrscheinlich verdiente sie es, hier zu sein, einsam und verlassen, um auf den Tod zu warten. Wenn ihre Mutter wüsste, was sie getan hatte, würde sie sich in ihrem Sarg wälzen und nicht weniger leiden als Apolonia jetzt.
So lag sie da, in dunkler Stille, unter Tonnen von Gestein, Erde und Verzweiflung. Mit der Gewissheit, an ihrem größten Elend selbst schuld zu sein.
Raum und Zeit
Jetzt!«
Tigwid, Fredo und Mart holten gleichzeitig aus und warfen ihre Dynamitstangen. Dann stürzten sie sich in den Seitengang zu den anderen in Sicherheit. Die Gewölbe erbebten. Schreie erklangen und zerrissen in der Luft zu unmenschlichen Lauten.
Langsam richteten sie sich wieder auf. Staub rieselte auf sie herab. Überall hingen Rauschschwaden.
»Los!«, sagte Mart und lief ihnen geduckt durch den schummrigen Nebel voran. Verschwommen nahm Tigwid Gestalten wahr, die durch den Dunst taumelten oder auf dem Boden lagen. Er rannte schneller. Dann bogen sie in einen Gang ein und ließen die Halle hinter sich. Aus einem Korridor links kamen mehrere Blauröcke auf sie zu und schossen. Fuchspfennig entzündete eine Dynamitstange und warf sie den Polizisten zu. Die Männer flohen, ein Donnerschlag ließ die Wände zittern und der Treue Bund war weitergehastet.
Von hier aus kannte Tigwid wieder den Weg an die Oberfläche. Der Gang würde sie in eine längliche Halle führen, von dort aus liefen mehrere Kanalschächte zu einer Steintreppe und Feuerleitern, die schließlich bei einem Ausgang endeten.
Der Gang machte eine Biegung. Gleich konnten sie die Halle sehen... Das Licht an den Wänden knisterte, erlosch und ging wieder an. Irgendwo ganz nah wurden Schüsse abgefeuert.
Dann sahen sie eine Gruppe am Ende des Ganges stehen. Es waren keine Polizisten und keine Banditen. Es waren fein gekleidete Herren und eine Frau in einem weißen Pelz.
»Die Dichter! Halt!« Mart blieb stehen. Fuchspfennig sprang vor Schreck hinter Kairo, den er bis jetzt gestützt hatte.
Plötzlich stieß Fredo ein Brüllen aus, rannte vier Schritte auf die Dichter zu und warf eine Dynamitstange.
»Nein -!« Bonnis Warnung kam zu spät.
Mehrere Dichter hoben die Hände. Die Dynamitstange blieb in der Luft hängen, genau zwischen den Dichtern und dem Treuen Bund. Sie wäre längst zurückgeflogen, hätten Mart, Fuchspfennig, Kairo und Laus nicht ihre ganze Kraft dagegengehalten. Stockend, als würde jemand die Dynamitstange schieben, kam sie auf den Treuen Bund zu. Sekunden verstrichen. Dann war die Zündschnur abgebrannt.
»Runter!«, schrie Tigwid.
Sie ließen sich nach hinten fallen und schützten ihre Köpfe mit den Händen. Das Dynamit sprengte den Gang. Die Wände barsten zu allen Seiten. Steinbrocken lösten sich aus der Decke und zertrümmerten den Boden. Tigwid rang keuchend nach Luft. Seine Lungen füllten sich mit Staub.
Nach Minuten, so schien ihm, fand er endlich die Kraft, auf die Beine zu kommen. Das Licht war verschwunden... nein, irgendwo aus weiter Ferne drang ein Schimmer zu ihnen. Im braunen Dunst suchte Tigwid nach seinen Freunden und half Kairo und Bonni hoch. Allmählich sanken die rauchenden Schwaden und auch die anderen Mitglieder des Treuen Bunds richteten sich hustend und stöhnend auf. Gebannt starrten sie in die Richtung, wo die Dichter gewesen waren.
Gestalten schälten sich aus dem trüben Rauch. Kaum hatten sie die Dichter erkannt, geriet der Rauch in Wallung, und ein mächtiger Energiestoß raste auf sie zu. Gerade rechtzeitig stemmten die Geisterherren sich dagegen. Ein heißer Wind zerrte an ihren Kleidern. Tigwid kniff die Augen zu. Seine Haut begann überall zu kribbeln, als würden elektrische Funken auf ihm hüpfen. Fuchspfennig drehte die Hände und ein großer Mauerbrocken schoss auf die Dichter zu. Kurz vor ihnen explodierte er in hundert Splitter. Ein wütendes Brüllen war zu hören.