Die Autotür wurde geöffnet und der Polizist befahl ihnen auszusteigen. Vampa gehorchte und stellte sich mit gesenktem Kopf hinaus. Die Scheinwerfer weiterer Automobile näherten sich aus der Dunkelheit.
Blitzschnell legte Vampa die Arme um den Polizisten und würgte ihn mit den Handschellen. »Den Schlüssel«, forderte er.
Der erschrockene Blaurock wollte erst nach seiner Waffe greifen, doch Vampa stieß ihn nach vorne, sodass er in die Knie ging und die Pistole fallen ließ. Dann reichte er Vampa den Schlüssel zu seinen Handschellen und Vampa schloss auf. Sobald er frei war, stieß er die Autotür zweimal gegen den Kopf des Polizisten, und der Mann brach zusammen. Die anderen Gefangenen drängten aus dem Wagen, um sich ebenfalls zu befreien, aber Vampa schenkte ihnen keine Beachtung. Er warf einen letzten Blick zur herankommenden Polizeieinheit, dann ging er rückwärts und verschwand in den Schatten des Hauses.
An der Nordseite des Anwesens fand Vampa eine Terrassentür, die nicht verschlossen war. Champagnergläser standen zwischen bunten Luftschlangen, doch die Gaslaternen brannten nur schwach und es herrschte tiefe Stille. Vampa durchquerte schlummernde Flure. Ihm war nicht klar, was er tun wollte - nur dass er in Apolonias Nähe bleiben würde. Er würde sie überzeugen, dass er nicht der war, für den sie ihn hielt.
Er stieg eine Treppe empor, als er von draußen aufgeregte Stimmen vernahm. Offenbar hatte man den überwältigten Polizisten gefunden. Dann entdeckte Vampa eine Bibliothek.
Langsam schob er die Türflügel weiter auf und ging an dem Kreis der Schreibtische vorbei. Er knipste eine Lampe an. In der Mitte der Tische und Regale verzierte ein Kachelmandala den Boden, und Vampa war eine Weile von dem Muster abgelenkt, ehe er sich den vielen Büchern zuwandte. Wenn Morbus ein Dichter war - dann musste es hier doch auch Blutbücher geben... Gerade wollte Vampa durch die Regalreihen streifen, da nahm er etwas aus den Augenwinkeln wahr: Über dem Mandala flimmerte die Luft. Plötzlich zuckten grüne Lichter im Raum. Gestalten formten sich, verschwommen und schwerelos wie unter Wasser... Vampa spürte, wie sich seine Eingeweide verkrampften, als er Apolonia und Tigwid erkannte. Nur zwei Zentimeter - ein Sekundenbruchteil - trennten sie von einem Kuss.
Bevor er recht begriff, was er tat, war Vampa über die Tische gesprungen und packte Tigwid. Seine flimmernde Gestalt wurde deutlich und fest, als hätte Vampa ihn in die Realität gezerrt. Dann warf er ihn zu Boden und schlug ihm ins Gesicht.
Apolonia stieß einen Schrei aus. Tigwid hob schützend die Arme und fing so zwei weitere Schläge ab; dann hatte er sich vom ersten Schock erholt und stieß Vampa von sich herunter. »Was soll das?!«
Vampa stürzte sich wieder auf ihn. Brennende Kälte breitete sich in seinem Kopf aus. »Ich bin du! Deine Vergangenheit - deine Gefühle sind meine, sie gehören mir! Es ist mein!«
Vampa wusste, dass ihm ein Unrecht angetan wurde, und dieses Wissen war stärker als alles andere. Er kannte die Vergangenheit des Jungen Gabriel, er besaß Gabriels Glück. Ihm stand auch sein zukünftiges Glück zu, seine Gefühle für Apolonia und ihre Gefühle für ihn! Er hatte mehr Recht darauf, Gabriel zu sein als Tigwid. Immer wieder schlug er auf ihn ein, auf den Fremdling, der zwischen ihm und Gabriels Identität stand.
Apolonia packte ihn um den Hals und versuchte, ihn von Tigwid zu zerren. Vampa ruderte mit den Armen. Mit einem Würgen fiel er zur Seite, seine Hand drückte auf das runde Marmorauge in der Mitte des Mandalas. Das Auge gab nach und sprang aus dem Boden.
Vampa wehrte sich nicht mehr gegen Apolonia, die ihn weiter würgte. Mit klammen Fingern drehte er die Marmorscheibe. Und rings um das Mandala stiegen Glasvitrinen aus dem Boden.
Stockend kam Vampa auf die Füße. Blutbücher ruhten in den Glasvitrinen, wie schlafende Kinder, tief versunken in ihren Träumen. Es waren mehr als dreißig. Ohne Apolonia anzusehen, befreite er sich von ihren Armen und trat auf die Bücher zu. Kleine Beschriftungen klebten auf den Sockeln. Das Fünfzehnte Buch. Der Junge Fridolin. Vampa tapste an ihnen vorbei. Das Achte Buch. Das Mädchen Sophie. Die Gedächtnisse - die Seelen von mehr als dreißig Menschen ... Das Zweiundzwanzigste Buch. Der Junge Albert.
Das Dritte Buch. Der Junge Marinus.
Vampa war wie vom Donner gerührt. Dann streckte er die Hand aus und legte die Fingerkuppen ans Glas. Das dritte Buch. Sein Buch.
Sein Buch!
Er ballte die Faust und zertrümmerte das Glas. Das Klirren der Scherben klang wie Glockenläuten. Mit der blutverschmierten Hand griff er nach dem Buch. Mehrere Sekunden hielt er es vor sich und starrte den roten Ledereinband an. Dann öffnete er es. Der Duft von Staub und Vergangenheit hauchte ihm entgegen.
Von Jonathan Morbus.
Das Dritte Buch.
Der Junge Marinus
Vampa konnte nicht umblättern. Erschüttert starrte er seinen Namen an.
Ich heiße Marinus.
Dann fiel die Seite um und sein Blick berührte, umarmte, trank die rote Schrift.
Apolonia ging rückwärts, bis sie gegen Tigwid stieß. Vampa hielt das Buch in den Armen und las. Schatten glitten über sein Gesicht. Erst bemerkte Apolonia es nicht, dann wuchsen die Schatten und flirrten über die hohen Buchregale und die Decke - Echos tanzten in der Luft, obwohl keine Geräusche erklungen waren. Stimmen. Vampas Stimmen.
Kinder lachten und weinten und Erwachsene riefen und flüsterten. Ein überwältigender Duft von geschnittenem Gras und gelben Rosen wogte über sie hinweg. Dann der weiche, sahnige Geruch von Hautcreme. Das Bild einer kleinen Kommode mit Elfenbeinfiguren flackerte im Zimmer und erlosch innerhalb von Sekundenbruchteilen.
Kaum hörbar flüsterte Vampa:
Du bist der Junge Marinus. Dein Haar ist dunkel und du fühlst die gekämmten Locken im Nacken. Deine Augen liegen tief, wenn du hochguckst, siehst du deine Wimpern, lang und dunkel und blond an den Rändern, wenn du nach unten guckst, siehst du deine Nase. Sie ist knochig und glatt, eckig an der Spitze. Deine Lippen sind dünn, du lächelst selten. Wenn du sprichst, neigst du den Kopf zurück. Du wurdest in dem Bewusstsein erzogen, besonders zu sein. Du bist reich. Für dich gelten andere Regeln als für den Rest der Welt.
Du willst, dass deine Katze mit dir spielt. Sie will sich keine Schnüre umbinden lassen und kratzt dich und du wirfst sie gegen die Kommode. Du sagst deiner Mutter, deiner lieben, sanften Mutter mit den blassen Händen und den liebevollen Augen, dass du eine neue Katze willst.
Du trittst dein Kindermädchen. Du weinst und stampfst mit den Füßen, weil deine Mutter außer Haus ist. Du bekommst Pfefferminzschokolade geschenkt, haufenweise, in grünweißes Papier eingewickelt, und wirfst sie in den Kamin, damit du sie nicht mit deinem weichen, stotternden Cousin teilen musst. Du beobachtest deinen Vater bei der Arbeit, sein dunkles Haar ist wie deins, aber die Augen hinter der dünnen Brille sind kühler, ohne das boshafte Funkeln eines verdorbenen Jungen. Du fürchtest diesen großen Mann mit der tiefen Stimme und den breiten Händen und willst wie er sein.
Vampa presste sich das Buch an die Brust. Blasse Lichter der Vergangenheit erleuchteten sein Gesicht.
»Ich ... erinnere mich.« Das erste Mal seit neun Jahren lächelte er. Er fühlte die glühende, feurige Schönheit der Wahrheit in sich und sie strahlte aus ihm heraus. Tausend Bilder, Melodien und Gerüche durchwirbelten ihn, und er hatte nicht gewusst, wie unendlich die Größe eines Herzens war, solange das Dunkel geherrscht hatte. Jetzt sprangen Gefühle in ihm auf wie reife Knospen, erschütternd, entsetzlich und wunderschön, während das Gewicht eines ganzen Lebens auf ihn herabwälzte gleich einer sommerlichen Woge.