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Seine Katze ...

Seine Mutter! Seine Mutter und sein Vater!

Bewegt blickte er zu Apolonia und Tigwid auf. Ihm war, als sähe er sie zum ersten Mal. Und in gewisser Weise war es auch so.

»Ich bin ein Mensch«, hauchte er und lächelte. »Ich heiße Marinus ... Marinus, das bin ich, ich lebe!«

»Nicht mehr lange.«

Apolonia und Tigwid fuhren herum.

Im Eingang - stand Morbus. Seine Pistole war auf Vampa gerichtet. Dann fiel der Schuss.

Er empfand keinen Schmerz. Als die Kugel durch das Buch schoss und sein Herz traf, durchfuhr ihn eine fast süße Verwunderung darüber, dass er so heftig fühlen konnte.

Er taumelte einen Schritt zurück und starrte auf das Loch im Buch. Dann knickten seine Knie ein. Der Augenblick, in dem er zu Boden sank, schien eine halbe Ewigkeit zu umfassen.

Das Nächste, was er wahrnahm, war Apolonia, die neben ihn stürzte. Ihr entsetztes Gesicht war ein schönes Bild, das ihn berührte; doch es berührte ihn nicht mehr wie vorher, als er noch der Junge Gabriel gewesen und sie geliebt hatte. Jetzt war es anders - war er anders.

»Vampa!« Sie beugte sich über ihn. »Nein, nein, nein...« Panisch riss sie einen Streifen aus ihrem Kleid und presste ihn gegen das hervorströmende Blut. Vampa wollte sie beruhigen; er wollte ihr sagen, dass sie sich nicht sorgen musste. Doch dann verschwamm die Gegenwart, und er glitt in einen Zustand, der traumhafter und zugleich klarer war als das Bewusstsein.

Hier offenbarte ihm das Leben sein Gesicht: Nun da er es endlich gefunden hatte und verlieren würde, teilte es seine Geheimnisse mit ihm.

Er sah alle Gesichter vorbeiziehen, alle Gesichter, in die er je geblickt hatte. Er sah eine Banditenbande, die ihr Opfer im Kreis erstach, sah das Opfer sterben, das Gesicht zerfließen, bis es sich in das Gesicht des Mörders verwandelte, der in den Opiumhöhlen von Eck Jargo ewigen Schlaf fand; er sah ein Kalb auf der Schlachtbank, in dessen Augen das Leben erlosch, und sah den Metzger seinen letzten Schnaps trinken, bevor ihm das Herz im aufgedunsenen Körper stehen blieb. Gesichter, tausend Gesichter zeigten sich ihm in einem schnellen Rausch, rennende Kinder, die sich in silberne Fische verwandelten, er sah die Fische zu Hunden werden, die durch die Gassen huschten, sah die Hundegesichter zu den traurigen Gesichtern der Obdachlosen schmelzen, ihre Gesichter wurden verdrängt durch die Gesichter der Reichen, er sah Männer zu Frauen zerfließen, Frauen zu Kindern, Kinder zu Greisen, zu Toten, zu Neugeborenen. Sie alle verschwanden, alle zerfielen, wurden fortgespült, und doch war das Gesicht des Lebens immer da, und es blickte Vampa aus den ewigen Augen der Lebenden an und lächelte. In diesem Gesicht sah Vampa nun sein eigenes. Es strömte vorbei, zerfloss und verging. Und nur dafür - um einmal das Gesicht der Welt zu tragen, um einmal das Gesicht der Welt zu sein -, dafür hatte er gelebt. Und würde er sterben.

»Gut. Ist gut«, murmelte er und berührte Apolonias Hand. »Ist alles gut ... Ich fürchte nicht ...«

Das Gesicht der Welt strahlte deutlicher denn je. Dann wurde das Licht immer heller, bis sein Lächeln sich darin verlor. Vampa folgte ihm verzückt, verliebt, mit einem Herzen voller Wärme.

Apolonia saß auf dem Boden. Sie fühlte das Blut warm durch den Stoff sickern, doch Vampas Augen blickten bereits in eine Ferne, die für keinen Lebenden sichtbar war. Sein Gesicht wirkte so glücklich, als wäre es in einem seligen Moment festgefroren. Apolonia tropften Tränen das Kinn hinab. Ihre verschmierten Hände zitterten vor Entsetzen.

Tigwid hob behutsam Vampas Kopf an. Dann fuhr er über sein Gesicht und schloss seine Augen.

Hinter ihnen erklangen langsame Schritte. Apolonia sah über die Schulter hinweg Morbus an. »Mörder.« Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, wieder Kontrolle über ihre Hände zu erlangen. »Du feiger Mörder!«

»Ich habe auf den rechten Augenblick gewartet. Das nennt man Intelligenz.«

Apolonia spürte, wie sie den Kopf schüttelte. Wie konnte, wie konnte ein Mensch so eiskalt sein? Ein Mensch, den sie bewundert hatte - den sie zu kennen geglaubt hatte!

»Du bist nicht zurückgekommen«, fuhr Morbus fort. »Wir haben uns Sorgen gemacht. Außer uns dreien, so scheint es, sind alle Dichter tot.«

Jetzt entdeckte Apolonia auch Nevera, die am Eingang erschien. Ihre Pelzstola war fort, ihr Kleid schmutzig und ihr Haar strähnig. Mit sichtlicher Anspannung beobachtete sie die Szene.

»Wie kannst du so...«, brachte Apolonia hervor. Ihre Stimme war nur ein Flüstern, Morbus schien sie nicht gehört zu haben. Sie schluckte schwer. »Wie kannst du so böse sein?«

Morbus blickte auf Vampa hinab, als hätte er ihn erst jetzt bemerkt. Sorgenvoll runzelte er die Stirn. »Das Leben selbst ist bedeutungslos, Apolonia. Erst das, was wir mit unserem Leben anfangen, bestimmt seinen Wert.«

Apolonia kniff die Augen zusammen. Sie wusste nicht einmal, was sie darauf erwidern sollte - auf ihn einzugehen wäre ganz und gar sinnlos. »Das ist alles, was du hast, wohlklingende Worte! Worte, wo ein Mensch sein sollte ...«

Nevera kam auf sie zu. »Apolonia, du bist verwirrt. Jonathan hat dich vor dem Terroristen gerettet!«

»Sie lügt!«, rief Tigwid - Apolonia nickte kaum merklich und murmelte: »Ich weiß.«

Nevera blieb hinter Morbus stehen und beäugte erst Apolonia, dann Tigwid. »Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist.«

»Die Wahrheit ist in mich gefahren, Nevera.« Apolonia erhob sich schwerfällig und wischte sich die Hände am Kleid ab. »Spart euch eure Worte. Sie haben ihre Wirkung verloren.«

Morbus und Nevera sahen sie ausdruckslos an. Dann berührte Nevera Morbus am Arm und beugte sich an sein Ohr. »Ich eigne sie mir an.«

Mit bedachten Schritten kam Nevera näher. »Weißt du, Apolonia ... ich hatte dich für klüger gehalten, als du offenbar bist. Aber in diesem Augenblick sehe ich Magdalena allzu deutlich in dir.«

Apolonia verkrampfte sich. »Du warst neidisch auf sie. Weil sie alles hatte, was du nicht verdient hast.«

»O nein - auch wenn der Zufall es so wollte, dass Magdalena mit größeren Begabungen geboren wurde als ich, war ich doch diejenige, die mit den Gaben umzugehen wusste.« Sie stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Die dumme Gans konnte mit ihren Fähigkeiten so viel anstellen wie eine Katze mit einem Buch! Für sie waren es kindische Spielereien, eine ›Wissenschaft‹ - ha, dass ich nicht lache!«

»Und für dich?«, entgegnete Apolonia bitter. »Für dich waren die Gaben der Weg, um dir Elias zu holen?«

Nevera lächelte kalt wie Stahl. »Nein, Kindchen. Du unterschätzt die Gaben einer Frau; die bringen Erfolg, wo alle Fähigkeiten einer Motte scheitern.«

Apolonia bemühte sich, Nevera weiterhin in die Augen zu blicken. Allein der Schock über Vampas Tod dämpfte ihre Gefühle, sodass sie nicht die Fassung verlor. »Wie habt ihr sie umgebracht?«

Nevera blickte lächelnd zu Morbus zurück und leckte sich die Unterlippe. »Keine Bange, Liebes ... wir haben uns um einen romantischen Abgang bemüht, wie er Magdalena gefallen hätte. Wir verbrannten das Buch, in dem ihr Geist gefangen stand, und streuten die Asche in den Fluss. Freut es dich zu hören, dass sie die Erste war, die Jonathan je in ein Buch geschrieben hat? So ist die Gute doch als etwas Besonderes in die Geschichte eingegangen, wie sie es sich immer erträumt hat.«

»Monster!«, stieß Apolonia aus. Als sie die Hand ausstreckte und ihren ersten Angriff losließ, lachte Nevera auf. »Du bist wie immer zuvorkommend!«

Anstatt Nevera gegen die Regale zu schleudern, spülte Apolonias Energiestoß an ihr vorbei wie Wasser an einem Fels.