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»Frau Spiegelgold?«, fragte Bassar verdutzt.

Nevera sprang auf und schwenkte die Arme durch die Luft. »Fliegen! Sie kann fliegen! Ich will fliegen!«

Mit großen Augen beobachteten Bassar und Mebb, wie sie durch die Trümmer zu springen begann.

»Das kommt definitiv in die Akte der Nocturna«, murmelte Mebb.

Bassar warf einen Blick auf Morbus, der von mehreren Polizisten aus der Bibliothek getragen wurde. »Vielleicht ist der Fall Nocturna hiermit beendet ... Wo ist eigentlich die kleine Spiegelgold? Hat jemand Apolonia Spiegelgold gesehen? Verdammt, jetzt muss sie endlich mit der Wahrheit rausrücken!«

Als die Polizei das Schloss von Caer Therin durchsuchte, waren Apolonia und Tigwid längst am Tor des Anwesens angekommen. Das erste Tageslicht des neuen Jahres berührte die winterlichen Felder, strahlend weiß und jung wie die erste Seite eines frisch gedruckten Buches. Apolonia konnte sich nicht sattsehen daran; die Herrlichkeit der Landschaft füllte sie ganz und gar aus, als wäre ihr Inneres genauso weit und riesig. Und so war es auch.

Trude schien weniger Sinn für die Natur zu haben. Seit Apolonia sie aus ihrem Zimmer geholt und ihr gesagt hatte, sie würden jetzt nach Hause gehen, war sie wie aufgelöst, sah sich immer wieder nach den Polizeiwagen um und bedachte Apolonia mit schreckerfüllten Blicken. Tigwid hatte sie anfangs für einen Landstreicher gehalten und auch jetzt noch legte sie vorsichtshalber einen Arm um Apolonia und bedachte ihn mit misstrauischen Seitenblicken.

Schweigend gingen sie die Straße entlang. Die Wagenspuren der letzten Nacht waren noch sichtbar, doch der Himmel versprach Schnee - bald würde alles unter einer neuen weißen Schicht verschwinden.

Die Blicke von Apolonia und Tigwid trafen sich wie zufällig, als sie die Umgebung betrachteten. Ein merkwürdiges Gefühl kribbelte Apolonia in der Brust, das aber nicht unangenehm war; sie wandte sich rasch ab und ließ zu, dass Trude sie ein Stück weiter von Tigwid wegzog.

Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und atmete tief durch. Er war froh, am Leben zu sein. Merkwürdig, dass ihm das immer erst dann bewusst wurde, wenn er von blauen Flecken übersät war.

Bald holte sie ein Bauernkarren ein, der Waren in die Stadt brachte. Apolonia, Tigwid und Trude durften hinten aufsitzen und wurden das letzte Stück bis zur Stadt mitgenommen. Nachdenklich beobachtete Apolonia die Schlange schwarzer Polizeiwagen, die in der Ferne von Caer Therin herkamen.

»Was ist eigentlich aus deiner Prophezeiung geworden?«, fragte sie Tigwid leise, ohne ihn anzusehen. Trude hatte sie nicht gehört oder tat zumindest so.

Tigwid beobachtete wie Apolonia die schwarzen Automobile. Von hier aus wirkten sie wie eine Karawane von kleinen Käfern. »Ich weiß immer noch nicht, was der Sinn unserer Gaben ist, wenn du das meinst. Aber ... ich glaube, das war gar nicht meine sehnlichste Frage. Ich wollte nicht wissen, wer die Motten sind, sondern wer ich bin.« Er sah sie an. »Wenn das, was einen Menschen ausmacht, Gedanken, Erinnerungen, Träume und Gefühle sind, dann hat mich das, was ich fühle, zu dem gemacht, der ich bin. Ich bin ein Junge ... der dich liebt.«

Sie konnte sich nicht bewegen. Mühsam öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen, aber sie wusste nicht, was.

Tigwid lachte leise. »Schon in Ordnung, du musst nichts sagen. Ich weiß ja, was für ein Eisblock du bist. Abgesehen davon ist nicht jeder so wortgewandt wie ich ...«

Sie grinste ihn an. Dann nahm sie seine Hand, und ihre Finger umschlangen sich, ganz heimlich, damit Trude nichts bemerkte. So fuhren sie voran und blickten zurück, beide ihren eigenen Gedanken nachhängend, die im Grunde dieselben waren.

Ein Buch

In den nächsten Tagen freuten die Zeitungen sich über fantastische Schlagzeilen. Die Entdeckung des Untergrunds sorgte gar für internationales Aufsehen. Bald schon erschienen die ersten Kurzgeschichten und Romane, die sich den Untergrund zum Schauplatz ihrer Erzählungen wählten, und ein Reiseführer bot Abenteuerlustigen sogar kurzweilig eine illegale Tour durch die Katakomben an.

Im allgemeinen Aufruhr ging die Nachricht von Jonathan Morbus’ Festnahme beinahe unter. Nur eine kleine Pressemitteilung verkündete, dass der bekannte Schriftsteller einen Jungen erschossen und anschließend Feuer in seiner Bibliothek gelegt habe, offenbar in der Absicht, sich das Leben zu nehmen. Später wurde ihm auch der Mord an seinen ehemaligen Gefährten angelastet, deren Leichen man im Untergrund fand - obwohl die Todesursache nie ganz festgestellt werden konnte, ließen Morbus’ abfällige Bemerkungen über ihr Ableben darauf schließen, dass er zumindest daran beteiligt gewesen war. Gerüchten zufolge hatte er sich keinen Anwalt genommen, sondern zu seiner Verteidigung lediglich gemurmelt, dass das Leben selbst wertlos sei - erst, was man mit dem Leben anfinge, bestimme seinen Wert. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

Unter all den gefassten Verbrechern aus dem Untergrund bekannte sich kein einziger zum Treuen Bund. Und Staatsanwalt Elias Spiegelgold, der wahrscheinlich trotzdem Terroristen unter ihnen gefunden hätte, war mit anderen Dingen beschäftigt, denn seine Frau hatte vor Kurzem den Verstand verloren.

Für Außenstehende mochte es so wirken, als sei das Haus Spiegelgold das traurigste der ganzen Stadt. Ein frostiger Anwalt, seine verrückte Frau, sein verrückter Bruder und seine halb verwaiste Nichte - so stellte man sich nicht unbedingt die glückliche Familie vor, die abends um den Kamin saß und Rommé spielte. Auch die Bediensteten des Hauses bestätigten, dass es eine wahre Hölle sei, sich um die beiden angeknacksten Herrschaften Alois und Nevera zu kümmern.

Aber Trude wusste, dass die Spiegelgolds nicht in Elend versanken. Sie verstand es zwar nicht, doch sie war dem lieben Gott sehr dankbar, dass der Unfall ihrer Tante und der Verlust ihres Freundes Morbus Apolonia nicht vollends bekümmerten, im Gegenteil. Als Trude pünktlich mit ihrem Nachmittagstee das Zimmer betrat, saß Apolonia mit strahlenden Augen und leuchtenden Wangen an ihrem Schreibtisch.

Trude stellte Tee, Milch und Honig vor sie hin und lächelte glücklich über ihren gut gelaunten Schützling. »Na? Womit sind Sie denn beschäftigt?«

»Oh, ich lese gerade ein sehr inspirierendes Buch.«

Aus einem anderen Teil des Hauses drang klirrendes Gelächter. Apolonia und Trude verfielen in Schweigen, während Neveras Lachen durch alle Zimmer hallte. Dann endete es so abrupt, wie es gekommen war.

»Nun«, sagte Trude und drückte das Tablett an ihre Brust. »Ich werde mal nachsehen.«

Apolonia nickte und beobachtete, wie ihr Kindermädchen das Zimmer verließ. Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, tauchte Tigwid unter dem Bett auf und stützte mit einem Seufzen den Kopf auf die Arme. »Wusstest du, dass unter deinem Bett eine Staubplantage liegt?«

Sie grinste. »Soll Trude vielleicht erfahren, dass ich neuerdings Banditen das Lesen beibringe?«

Er kam zu ihr geschlendert und ließ sich auf der Tischkante nieder. »Wo waren wir stehen geblieben? Bei meiner Erinnerung an ein Mädchen ... das mir im Sommer eine Lilie ins Knopfloch gesteckt hat ...«

Apolonia zog ihm sein Blutbuch wieder aus der Hand und blätterte um. »Nein, das können wir überspringen. Wir sind jetzt bei einem bösen, glatzköpfigen Mann, den du erfolgreich ausgeraubt hast.«

Mit einem Lächeln machte er sich ans Lesen. Er war schon viel besser geworden. Apolonia unterbrach ihn nur noch höchstens zweimal pro Satz und nur noch ganz selten schlug sie mit der Faust auf den Tisch. Bald würden sie Der Junge Gabriel zu Ende gelesen haben, und Tigwid würde das Glück seiner Kindheit wieder besitzen - vorausgesetzt er erinnerte sich auch an das ganze Buch. Von allen Blutbüchern existierte nur noch seines mit Sicherheit; Apolonia hatte es schon vor langer Zeit heimgebracht, auch wenn sie damals nicht hatte sagen können, warum sie es nicht in Morbus’ oder Ferols Sammlung zurückgeben wollte. Jetzt kannte sie natürlich den Grund.