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Nur ein Licht, eine kleine Kerze, glomm noch. Das Wachs tropfte auf Apolonias Nachtschränkchen, aber sie bemerkte es nicht. Die Decke um die Schultern gelegt wie ein Daunenzelt und die Beine gekreuzt, kauerte sie neben dem hüpfenden Lichtchen und las.

Tränen kullerten ihr über die Wangen, seit sie das Buch angefangen hatte. Als der Inspektor am Nachmittag gegangen war, hatte sie es vom Tisch genommen und aufgeschlagen.

Inspektor Bassar hatte es mitgebracht; es war eines der wenigen Bücher, die das Feuer überstanden hatten. Apolonia hatte noch einmal über die Seiten eines Buches streichen wollen, das nie zuvor aufgeklappt worden war, hatte noch einmal die Druckerschwärze riechen wollen, den Geruch ihrer Kindheit - dann hatten ihre Augen die erste Zeile gestreift, das erste Wort, den ersten Buchstaben, und alle Wehmut war verblasst: Nur noch das Buch zählte.

Apolonia hatte ihren Vater im Salon sitzen gelassen, war lesend in ihr Zimmer gegangen und hatte Trude mit einem Wink fortgeschickt. Sie hatte sich in ihr Bett gesetzt und gelesen.

Nun war es fast vier Uhr morgens. Stille herrschte im ganzen Haus, auch draußen schwieg die Stadt. Nur das Umblättern der Seiten war zu hören und, hin und wieder, ein leises Seufzen, wenn Apolonia sich die Tränen von den Wimpern wischte.

Nie hatte sie so etwas gelesen - und durch ihre Hände waren wahrscheinlich mehr Bücher gegangen als durch die eines durchschnittlichen Bibliothekars. Was sie nun las, war unvergleichbar mit allem, was es sonst auf der Welt gab. Apolonia fühlte das Mädchen im Buch. Sie war lebendig. Sie war Apolonia.

Mit zitternden Fingern strich sie die letzte Seite um. Ihre Augen schmerzten und die Müdigkeit lähmte jede Zelle ihres Körpers, doch sie konnte nicht aufhören. Es war unmöglich, sich loszureißen. Wäre ein Räuber in ihr Zimmer gestürmt, hätte Apolonia weitergelesen.

Ihre Lippen formten die letzten Worte mit. Dann war das Buch zu Ende.

Apolonia musste lächeln. Was für ein Buch! Ganz schummrig war ihr vor Glück, vor Bauchkribbeln. Dabei konnte sie gar nicht darüber nachdenken, was ihr an der Geschichte gefallen hatte - über die Geschichte selbst konnte sie nicht nachdenken. Das Buch war in ihrem Inneren aufgebläht wie ein riesiger, ungreifbarer Gefühlsballon. Sie blätterte noch einmal an den Anfang und fuhr mit den Fingern über den Titel. Das Mädchen Johanna. Von Jonathan Morbus.

Apolonia biss sich auf die Lippe. Das Buch behutsam in die Hände geschlossen, verweilte sie mehrere Augenblicke und fühlte sich so glücklich wie lange nicht mehr.

Wie konnte es so etwas geben? Das hier war mehr als nur ein Buch. Viel mehr als eine Geschichte. Es war wie ... wie ein echter Mensch, dachte sie, aber auch das traf es nicht richtig.

Plötzlich klopfte es an ihrem Fenster. Apolonia drehte sich um. Ein schmaler, geschmeidiger Schatten war hinter der Glasscheibe erschienen.

Sie schob das Buch unter ihr Kopfkissen und nahm die Kerze vom Nachtschränkchen. Das Licht vorgestreckt, ging sie zum Fenster. Krallen klackerten gegen das Glas. Apolonia leuchtete hinaus und ein dunkles Augenpaar glühte auf. Es war ein Marder.

Rasch öffnete sie das Fenster und der Marder flitzte ins Zimmer. Er sprang aufs Bett, über Decke und Kissen, schlug einen Haken und landete auf dem Schreibtisch. Ein Bild drängte sich in Apolonias Bewusstsein, ein Bild von laut rufenden Menschen.

»Hallo, Knebel.« Weil der Marder das natürlich nicht verstand, konzentrierte sie sich auf das Bild eines Mädchens, das die Kleider einer Königin trug und auf einem riesigen Globus stand. Der Marder quiekte zur Begrüßung, als er das Bild empfing.

Zugegeben, bei der Wahl ihres Namens war Apolonia nicht bescheiden gewesen. Bei den Tieren war sie als Königin bekannt, die auf der Welt tanzte. Knebel hingegen hatte sich, als sie ihn das erste Mal traf, mit dem Bild einer lärmenden Menge vorgestellt. Er hasste nämlich den Lärm der Menschen und wollte ihnen allen am liebsten das Maul stopfen, vor allem den neuen, riesigen Glanzkäfern, den Automobilen. Also hatte Apolonia ihm den Namen Knebel gegeben. Doch im Grunde genommen gab es keine Klangnamen bei den Tieren, sie stellten sich in Bildern vor.

Du kommst spät, sagte Apolonia. Dabei dachte sie an den finsteren Himmel draußen, die nächtliche Stille (die sie noch mit einem sanften Grillenzirpen unterlegte) und dann den Schatten an der Fensterscheibe. Demonstrativ gähnte sie und ging zurück ins Bett. Knebel blickte ihr mit großen Augen nach und hüpfte schließlich zu ihr aufs Kissen, als sie sich die Decke bis zum Kinn hochzog. Apolonia war fast zu müde, um sich noch mit Knebel zu unterhalten. Hartnäckig sandte er ihr seine Bilder, aber immer wieder zerfielen sie in ihrer Vorstellung, bevor sie ihren Sinn begreifen konnte.

Ein Bild von der Nacht. Der Mondschein ist besonders hell - er wird von den Augen eines Marders wahrgenommen. Überall in den Straßen huschen Marder umher. Manche sind feindlich, andere freundlich gesinnt. Es ist ein Revierkampf im Gang. Knebel will sich drücken, er hat Angst, aber die Anführerin lässt ihn nicht aus den Augen. Er ist eines der jungen Männchen in seinem Clan und muss sich beweisen ... Es ist spät, als er schließlich doch verschwinden kann. Schleunigst stiehlt er sich davon, lässt die Kämpfenden hinter sich zurück und klettert zu Apolonias Fenster empor ...

Du Feigling, dachte Apolonia lächelnd. Ein rennender Marder, der seinen Clan hinter sich zurücklässt.

Knebel quiekte empört, dann kraulte Apolonia ihm den Nacken. Dicht an sie gekuschelt, rollte der Marder sich ein.

Kann nix dafür, murmelte Knebel und schickte ihr ein blasses Bild: Die Königin, die auf der Welt tanzt, und lärmende Leute. Auf der anderen Seite ein buschiger, fauchender Marder. Wofür soll man sich da entscheiden?

»Ja, ja«, murmelte Apolonia. Knebel schleckte ihr noch einmal über die Stirn, dann war er eingeschlummert; auch Apolonia fiel bald in einen tiefen Schlaf, in den sie die Geschichte aus dem Buch begleitete ...

Als Apolonia das erste Mal mit einem Tier gesprochen hatte, war sie so klein gewesen, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Eine lange Zeit hatte sie mit Katzen und Hunden, die ihr auf der Straße zuliefen, und Eichhörnchen und Mardern aus den Parks Bilder ausgetauscht und geglaubt, jeder Mensch könne dasselbe. Erst als sie fünf war, beobachtete ihre Mutter sie beim Streicheln einer Krähe, die ihr aus den Bäumen zugeflogen war.

»Ist das dein Freund?«, hatte ihre Mutter ihr zugeflüstert, den Blick auf den schönen schwarzen Vogel gerichtet.

»Das ist Apfelschale. Sie isst am liebsten Apfelschalen.«

»Dann hast du also auch eine Gabe«, murmelte Magdalena Spiegelgold, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Was du kannst, kann fast niemand sonst auf der Welt. Nicht einmal ich kann mit Tieren sprechen.«

Apolonia hatte sich sehr besonders gefühlt. So besonders wie ihre Mutter.

Denn Magdalena Spiegelgold war keine gewöhnliche Frau - das hatte Apolonia schon gewusst, bevor Trude ihr erklärte, wie die Dienstmädchen ihre Mutter hinter vorgehaltener Hand nannten. Wenn Apolonias Vater bei der Arbeit in der Buchhandlung war, besuchten sie merkwürdige Gäste. Sie rochen nach Kerzenwachs, Weihrauch und gelber Wüstenerde. Sobald sie kamen, musste Apolonia den Salon verlassen und wurde zu Trude geschickt. Doch manchmal, wenn das Kindermädchen beim Stricken eingedöst war, schlich Apolonia die wuchtige Wendeltreppe hinab und spähte durch das Schlüsselloch. Einmal sah sie ihre Mutter mit dem Rücken auf dem Boden liegen. Die Fremden saßen rings um sie herum, hatten die Augen wie sie geschlossen und murmelten leise Worte. Da begann der Körper ihrer Mutter zu beben, ganz sacht nur, als ginge ein leichter Stromschlag durch sie hindurch. Ihr hellbraunes Haar löste sich aus dem eleganten Knoten und breitete sich auf dem Boden aus. Wie Schlangen ringelten sich die Strähnen um ihr regloses Gesicht und ihr Körper hob von der Erde ab. Einen Fingerbreit schwebte sie über dem dunklen Holzparkett, steif und reglos. Die Fremden murmelten unablässig ihre Worte. Apolonia wich erschrocken von der Tür weg. Sie rannte zur Treppe zurück, erklomm mit ihren kleinen Beinen die großen Stufen, bis sie wieder im Kinderzimmer angekommen war und die Tür leise hinter sich schloss.