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Ein anderes Mal hörte Apolonia ihre Eltern streiten, obwohl sie nie lauter sprachen als nötig. Apolonia wusste, worum es ging. Sie merkte es am Klang ihrer Stimmen, am merkwürdigen Verstummen mitten im Satz. Es ging um die Gäste, die wie Geister ins Haus glitten, sobald Alois Spiegelgold nicht da war. Apolonias Vater war nicht dumm. Er wusste über die Freunde seiner Frau Bescheid, und er wusste von den geheimnisvollen Spielen, die sie im Salon trieben, dem Flüstern und Murmeln und den heraufbeschworenen Mächten, die Magdalenas Haar in Schlangen verwandelten und ihren Körper schweben ließen. Aber er unternahm nichts dagegen, denn er liebte seine Frau, und all die seltsamen Dinge, die sich hinter ihren hellblauen Augen verbargen, waren ein Teil von ihr. Bloß von ihren Gästen wollte er nichts wissen.

Hin und wieder hatte Apolonia das Gefühl, dass gar nicht die Fremden warteten, bis ihr Vater das Haus verließ - vielmehr flüchtete ihr Vater, bevor sie kamen. Dann schien es ihr, als besäßen in Wahrheit sie das Haus und nicht Alois Spiegelgold, und auch Magdalena gehörte ihnen mehr als ihrer Familie.

Einmal fragte Apolonia ihre Mutter, was sie im Salon tat, wenn ihre Gäste da waren und sie fortgeschickt wurde. Magdalena lächelte, sehr fern und verschleiert wirkte ihr Gesicht, und ihr Blick schien an einen Ort zu reichen, den niemand außer ihr sehen konnte.

»Ich wandere. Es gibt viele Arten, um zu wandern, und viele Orte zu bereisen, die man nicht immer auf einer Landkarte findet. Nicht nur mit den Füßen kann man laufen, verstehst du?«

Apolonia verstand nicht. Erst viel später begriff sie, dass ihre Mutter eine Motte war.

»Fräulein Apolonia ... Wachen Sie auf, Fräulein Apolonia. Es ist Morgen!«

Apolonia kniff die Augen zu, als die Vorhänge aufgezogen wurden und helles Tageslicht in ihr Zimmer flutete. Die Herbstsonne malte einen goldenen Rand um Trudes dicken, kleinen Körper, als das Kindermädchen aufs Bett zuwackelte und vorsichtig die Decke aufschlug. Apolonia zog die Knie an den Körper.

»Ich bin müde!«, knurrte sie in ihr Kissen.

»Es ist aber schon zwölf Uhr, und die gnädige Frau Spiegelgold besteht darauf, dass Sie noch zur selben Stunde in ihrem Salon erscheinen, wo doch der Schneider gekommen ist!«, brabbelte Trude und zog Apolonia, die sich noch immer an ihr Kissen klammerte, mit sanfter Bestimmtheit hoch. Seit Apolonia sie kannte, war Trude immer unverändert rund und gemütlich gewesen. Das kleine Krötengesicht, aus dem sie die grauen Haare peinlich genau zurücksteckte, war voller Fröhlichkeit. Ihre piepsige Stimme klang mehr wie die eines Kindes, und sie lispelte ein bisschen; nur wenn sie sang, dann wurde ihre Stimme klar und tief, als sei sie plötzlich weise geworden, auch wenn der Eindruck nur für die Dauer eines Liedes hielt.

Als Apolonia halbwegs aufrecht im Bett saß, strich Trude ihr die zerzausten Haare aus dem Gesicht und klopfte ihr auf die Wangen. Dann entdeckte Trude das Buch, das vorher unter dem Kissen gelegen hatte, und trug es mit Daumen und Zeigefinger zum Schreibtisch, als könnten die Buchseiten plötzlich aufschnappen und beißen.

»Das Fräulein sollte nicht so spät in die Nacht hinein lesen«, lispelte Trude mit leiser Missbilligung. »Schon gar nicht, wenn ein so wichtiger Tag bevorsteht.«

»Wichtiger Tag!« Apolonia schnaubte. »Es ist eine Frechheit, so kurz nach Vaters Unglück ein Fest zu veranstalten.«

Trude stand einen Moment schweigend vor ihr und sagte nichts. Dann eilte sie um das Bett herum in den Ankleideraum.

»Ihre Frau Tante und Ihr Herr Onkel haben aber nun einmal achten Hochzeitstag. Das kommt nicht alle Tage vor, dass man acht Jahre verheiratet ist, nein, nein ... acht Jahre sind eine lange Zeit, und wenn sie schön war, dann blickt man auf sie zurück wie auf einen kurzen Sommer!«

Trude kam mit Apolonias Kleidern zurück und lächelte, dass ihre roten Backen leuchteten. »Schön waren die fünfzehn Jahre mit Ihnen, Apolonia! Kann mich so gut ans kleine Baby erinnern, das Sie damals waren, so winzig und schmal wie ein Püppchen war das Fräulein!«

Apolonia stand auf und streckte die Arme aus. Trude machte ihr die Knöpfe des Nachthemdes auf.

»So schnell verfliegt die Zeit und das Fräulein ist fast erwachsen! Eine junge Dame sind Sie geworden, schön wie Ihre Mutter. Und das werden Sie heute auch beweisen, beim Fest Ihrer Frau Tante und Ihres Herrn Onkels, nicht wahr, denn die ganze hohe Gesellschaft wird da sein, und man wird Sie nicht mehr als Kind ansehen. Das ist vorbei ...« Trude seufzte schwermütig.

»Vieles ist jetzt vorbei«, sagte Apolonia, stieg aus ihrem Nachthemd und steckte die Zehen in den Strumpf, den Trude ihr hinhielt. »Ich bin kein Kind mehr, du hast recht. Aber das muss ich nicht mit einem schönen Kleid beweisen, sondern mit meiner geistigen Überleg... - Beeil dich doch, ich stehe bloß auf einem Bein!«

Trude ächzte, während sie Apolonia den zweiten Strumpf überzog. Dann drehte Apolonia sich um und schlüpfte mit den Armen durch das Mieder, das Trude ihr hinhielt. Während die Kinderfrau die Schnüre am Rücken festzog, ließ Apolonia den Blick aus dem Fenster schweifen. Die Kupferdächer der Stadt glänzten in der Sonne und streckten ihre rauchenden Kamine weit hinauf ins Himmelblau. Links am Fensterrand konnte Apolonia sogar die Pappeln des Parks erspähen. Dabei fiel ihr ein - sie hatte ja Besuch. Wenn Trude erfuhr, dass ein Marder in ihrem Bett gelegen hatte ... Sie erschrak ja schon vor einem Buch! Bestimmt würde sie Apolonia mit Weihwasser waschen wollen. Niemand wusste von den Tieren, mit denen sie befreundet war. Und sie gedachte, es so zu belassen.

Aus den Augenwinkeln schielte sie zum Bett. Zwischen den dunkelblauen Deckenrüschen und dem Teppich erschien eine schnuppernde Marderschnute.

Das Bild vom Fenster und eine singende Marzipanfigur, schickte ihr Knebel. Die Marzipanfigur - das war Trude.

Apolonia antwortete: Das Zimmer ist leer. Die singende Marzipanfigur singt irgendwo anders.

Daraufhin schickte Knebel ihr ein Bild, das niemand gerne gesehen hätte, schon gar nicht, wenn er gerade erst aufgewacht war.

»Bäh!« Apolonia kniff die Augen zu, obwohl sie das Bild damit natürlich nicht verdrängen konnte.

»Oh, zu eng?« Trude lockerte die Schnüre sofort.

»Nein, nichts. Ich meine, nicht zu eng.«

Kannst du mir nicht anders zeigen, dass du aufs Klo musst?

Klo?, echote es zurück.

Apolonia seufzte. Mit Tieren zu sprechen, konnte ziemlich anstrengend sein. Fast so sehr wie mit Menschen.

Also gut. Wenn ich »jetzt« sage, flitzt du raus. Ich muss nur erst das Fenster öffnen.

Ich muss aber dringend!

»Verdammt.« Apolonia schloss die Augen. Hör auf, mir dieses Bild zu schicken! Das ist ja ekelhaft.

»Verzeihung!«, sagte Trude.

»Nein, nicht zu eng. Mir ist nur - heiß.« Apolonia winkte zum Fenster hin. »Oh, ich ersticke gleich! Trude, schnell, mach das Fenster auf.«

Trude wuselte zum Fenster und riss es auf. »Fühlen Sie sich nicht gut, mein Fräulein?«

Ganz dringend muss ich raus! Oder ich könnte auch hier unten ...

»Nein!« Apolonia warf einen glühenden Blick zum Bett.

Untersteh dich! Das Bild von der Königin, die nicht auf einer Weltkugel tanzt, sondern auf einem Marder trampelt.