»Deine Mutter!«, seufzte Nevera, als sie offenbar vergeblich in ihrem Gesicht nach ihr gesucht hatte. »Viel zu früh hat sie diese Welt verlassen müssen, nicht wahr? Und du armes Ding bist ganz ohne Mutter aufgewachsen ... Woher solltest du auch wissen, wie man sich benimmt? Du musstest ja aufwachsen wie ein wildes Unkraut, ganz ohne jemanden, der diese widerspenstigen Zweige und Blätter stutzt.« Dabei zupfte sie an Apolonias Haaren und strich ihr vorne einen Mittelscheitel, so wie Apolonia es hasste.
»Nun ja, ich hatte schließlich noch Vater. Und Trude«, erwiderte sie. Nevera runzelte die Stirn, als sei allein die Erwähnung einer Angestellten ungeheuerlich, doch sie schwieg.
Das Dienstmädchen kehrte mit einem Tablett zurück. »Madame, Ihr Frühstück.«
»Oh!« Nevera strahlte. »Stell es auf den Tisch dort. Apolonia, du darfst schon anfangen. Und Sie da, brauchen Sie mich noch lange?«
»Nein«, murmelte der Schneider, der instinktiv den verbrannten Kopf einzog. »Ich kann das Kleid auch so fertig nähen, denke ich.«
»Fein. Anna, hilf mir beim Umziehen.« Nevera und das Dienstmädchen verschwanden hinter einem Paravent, und wenig später trat Nevera, in einen karamellfarbenen Morgenrock gehüllt, wieder hervor. Mit einem wohligen Seufzen ließ sie sich auf den Stuhl sinken und nippte an dem Tee, den das Dienstmädchen ihr eingeschenkt hatte.
»Also.« Behutsam stellte sie ihre Tasse wieder ab, legte die Serviette auf ihren Schoß und nahm sich ein Croissant. »Wir müssen noch überlegen, was wir dir schneidern lassen. Ich dachte an ein Kleid in ... Rosenrosa.«
Apolonia gelang nur ein Mundzucken. »Eigentlich wollte ich Trauer tragen.«
»Um wen?«
»Meine Mutter.« Und meinen Vater, dachte sie. Sein jetziger Zustand war schlimmer als tot.
»Apolonia, das ist fast neun Jahre her! Ich kann nicht zulassen, dass du herumläufst wie ein Leichenbestatter. Und keine Widerrede!«
Apolonia musste fest die Zähne zusammenbeißen, um ihre Wut zu verbergen. Nie, nie hätte früher jemand gewagt, ihr den Mund zu verbieten. Aber jetzt war alles anders und sie musste ihrer Tante und ihrem Onkel dankbar sein und brav zu allem nicken. Sie fühlte sich so erniedrigt, dass sie unter dem Tisch ihre Fingernägel tief in die Handflächen grub.
»Liebes, du bist jetzt siebzehn und in Gedenken an deine Mutter und meine liebe Schwester: Sie war nur ein Jahr älter, als sie deinen Vater heiratete.«
»Ich bin fünfzehn«, erwiderte Apolonia.
Nevera hielt im Kauen inne und lächelte mit verschlossenen Lippen. »Natürlich, Gott sei Dank. Dann haben wir ja noch ein paar Jahre, um aus dir eine kleine Schönheit zu machen. Apropos Schönheit: Beug dich zu mir vor, Liebes.«
Apolonia zögerte, als Nevera die langen Finger nach ihr ausstreckte, doch dann gehorchte sie und beugte sich vor. Zu ihrer Überraschung kniff Nevera ihr fest in beide Wangen.
»Aua! Was -«
Nevera lehnte sich zurück und musterte Apolonia, die sich die Backen rieb. »Hm. Du bist ein bisschen blass, Apolonia. Aber wusstest du, dass ein Mädchen gleich ganz anders aussieht, wenn es ein bisschen Farbe im Gesicht hat?«
»Ich kann es mir vorstellen«, knurrte Apolonia. Wer sah nicht anders aus mit zwei großen blauen Flecken auf den Backen!
»Du wirkst auch etwas verschlafen. Vielleicht solltest du früher ins Bett gehen, damit du nicht mehr diese grässlichen dunklen Ringe unter den Augen hast. Wie heißt es so schön? Ringe sollte eine Dame nur an den Fingern tragen!« Dabei betrachtete Nevera liebevoll die goldenen Schmuckstücke an ihren Händen. Apolonia nahm einen Schluck von ihrem Tee.
»Ich habe in der Tat nicht viel geschlafen«, erwiderte sie knapp, und Nevera blickte von ihren Ringen auf.
»Warum? Nein - lass mich raten. Natürlich warst du aufgeregt wegen des heutigen Tages. Aber du brauchst überhaupt keine Angst zu haben. Du wirst fantastisch aussehen, und ich werde mich darum kümmern, dass du auf dem Fest der Creme de la Creme vorgestellt wirst, versprochen.«
»Um ehrlich zu sein«, sagte Apolonia trocken, »habe ich ein Buch gelesen.«
»So?« Neveras Gesicht verschwand hinter ihrer Teetasse. »Ich hoffe, es war deine Augenringe wert ...«
»Es war ein außergewöhnliches Buch, nein, viel mehr. Es war ...« Apolonia verstummte. Zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, fehlten ihr die Worte, und sie wusste nicht, wie sie ihr Inneres zum Ausdruck bringen sollte. Eine Weile schwieg sie verdutzt über diese Erkenntnis.
»Und welches Buch war so fesselnd?«
»Es hieß Das Mädchen Johanna von Jonathan Morbus.«
»Jonathan!« Ein Leuchten erschien in Neveras Augen. »Wie erfreulich. Er ist heute Abend einer unserer Gäste.«
»Tatsächlich?« Apolonia konnte sich plötzlich nicht vorstellen, dass der Verfasser des Buches ein Mensch aus Fleisch und Blut war - und dass sie ihn kennenlernen würde! Ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Vielleicht würde die Feier doch nicht so langweilig, wie sie befürchtet hatte.
»Nun.« Nevera wandte sich zu dem Schneider um, der gerade die letzten Perlen an ihr Kleid nähte. »Ich würde sagen, bei meiner Nichte wird jetzt Maß genommen. Die Zeit läuft, und in acht Stunden muss das schönste rosenrosa Kleid geschneidert sein, das die Welt je erblickt hat!«
Der Schneider schob sich die Brille zurecht. »Ich lasse wohl besser meinen Assistenten holen.«
Die Vorbereitungen im Hause Spiegelgold liefen auf Hochtouren. Seit den frühen Morgenstunden schwirrten die Dienstmädchen wie fleißige Bienen zwischen Küche, Flur, Festsaal und den anliegenden Salons umher, schrubbten die Bodenfliesen, bis Marmor und Parkett wie Spiegel glänzten, wischten Regale, Statuen und Vasen ab und trugen rosafarbene und milchweiße Blumengestecke vom Hinterausgang in alle Zimmer, bis der Duft der Orchideen jeden Winkel des Hauses beherrschte. Der hauseigenen Köchin war eine ganze Mannschaft von Konditoren zu Hilfe gekommen und die Küche hatte sich in ein rauch- und dampfgefülltes Schlachtfeld verwandelt. Befehle und Flüche übertönten fast das Zischen der Töpfe: Irgendjemand hatte dreiundfünfzig Hummer gemopst.
»Das kann nicht sein!«, zeterte die Köchin und schlug mit jedem Wort ihren Löffel gegen den Herd. »Drei-und-fünfzig Hummer! Verschwunden!«
»Jesus und Maria im Himmel!« Der Oberkonditor rang die Hände. »Halten Sie den Schnabel! Bei diesem Lärm kann ich nicht arbeiten!«
Der glühende Blick der Köchin richtete sich erst auf den Konditor, dann auf die unvollendete Torte auf dem Tisch. Aus Angst, sie könne ihre verschwundenen Hummer im Gebäck vermuten, stellte sich der Konditor vor sein Werk. »Sprechen Sie mit Frau Spiegelgold. Jetzt ist es noch nicht zu spät, den Speiseplan zu ändern.«
Zur selben Zeit waren drei Dienstmädchen damit beschäftigt, die Salons, in denen Herr Spiegelgold später mit seinen Anwalts- und Richterkollegen plaudern wollte, mit genügend Rum und Zigarren auszustatten. Im Saal wurden die Kronleuchter poliert, die Tische zurechtgeschoben, sodass in ihrer Mitte Platz zum Tanzen war, und ein Podest für das Streichquartett errichtet. Ein Stockwerk über all dieser Geschäftigkeit schlüpfte Apolonia noch einmal in ihr neues Kleid, damit der Schneider und sein Gehilfe die letzten Änderungen vornehmen konnten. Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel und kam zu dem wohlüberlegten Entschluss, dass sie das Kleid hasste. Dann konnte sie vorerst wieder ihre alten Kleider anlegen. Da ihre Tante gerade damit beschäftigt war, die Dienstmädchen im Saal anzuherrschen, musste sie sich keine Ausrede ausdenken, um zum Dienstbotenausgang zu eilen.
Vor der Tür wartete bereits ein bibbernder Konditorgehilfe mit einer großen Holzkiste. Apolonia kam auf ihn zu und befahclass="underline" »Aufmachen!«