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Der junge Mann öffnete die Holzkiste und zeigte ihr, dass sie leer war. »Auf mich ist Verlass, hab ich doch gesagt.«

»Und du hast sie alle zum See gebracht? Lüge mich nicht an, ich erfahre die Wahrheit so oder so!«

Der Konditorgehilfe hob die Schultern. »Alle dreiundfünfzig krebsen in den Seen und Flüssen vom Park rum. Schwör ich dir.«

Apolonia maß ihn mit einem abschätzenden Blick, dann zog sie drei Münzen aus ihrer Rocktasche und ließ sie in die ausgestreckte Hand des Konditorgehilfen fallen. »Deinen Schwur brauche ich nicht. Aber dein Schweigen.«

Der junge Mann lächelte. Selbst wenn er diese Verrücktheit erzählte, würde ihm niemand glauben.

Zufrieden wandte Apolonia sich um und schritt ins Haus zurück. Später würde sie nachsehen, ob es den Hummern da draußen auch wirklich gut ging.

Als die Herbstsonne hinter den Hausdächern versank, verwandelte die Stadt sich in ein Fleckenfeld aus gelbem Licht und roten Schatten. Innerhalb weniger Augenblicke wurde es dunkel; auf den großen Hauptstraßen im Stadtzentrum erwachten die Straßenlampen mit einem Mal zu knisterndem Leben. In den weniger eleganten Vierteln dauerte es eine Weile, bis die Lichtfrauen und Lampenmänner alle Laternen entzündet hatten. Bald leuchtete die Stadt aus tausend glühenden Augen und erwiderte frech den Blick der Sterne, als wolle sie ihren Glanz übertreffen. In einem Stadtteil, wo die Straßenbeleuchtung bereits modernisiert war, zogen Kutschenkarawanen durch die Straßen. Hin und wieder überholte ein Automobil die Pferde und drängte sich in einem aufreißerischen Kurvenmanöver vor die Tiere. Rings um das Haus Spiegelgold fanden sich vornehme Gestalten zusammen und stiegen in lachenden und plaudernden Trauben die steinernen Treppen zur Haustür empor. Bald hielt das Klingeln inne: Die Türen wurden gar nicht mehr geschlossen.

Dienstmädchen mit blütenweißen Schürzen und gestärkten Hauben nahmen so viele Pelzmäntel, Stolen, Mäntel und Jacketts in Empfang, dass man damit Geschäfte hätte eröffnen können. Sobald sich die Gäste ihrer wärmenden Hüllen entledigt hatten, strömten sie glitzernd und schillernd wie geschlüpfte Schmetterlinge weiter Richtung Festsaal. Im Schein der Kronleuchter war das Gefunkel der Kleider, Krönchen, Kolliers und Ketten so blendend, dass Apolonia, die am oberen Absatz der Wendeltreppe stand, die Augen verengte. Offenbar dachten all die eitlen Gänse wirklich, dass sie als wandelnde Glühbirnen attraktiver waren. Doch sosehr sie sich auch anstrengten - Nevera Spiegelgold hatte dafür gesorgt, dass sie zumindest in dieser Hinsicht keine übertreffen konnte. Um ihre Arme schlossen sich breite Silberarmbänder mit eingehängten Perlen, und ein Kollier aus Weißgold mit mehreren dunkelblauen Saphiren machte sie um mindestens zwei Kilo schwerer. In ihren Haaren, die zu einer kunstvollen Hochfrisur aufgesteckt waren, funkelte ein Weißgolddiadem, das ihr mit Perlen in die Stirn hing und auf der Spitze einen daumengroßen Saphir präsentierte. Mit überschwänglicher Freude und den Gebärden einer Königin nahm sie die Geschenke ihrer Gäste entgegen und übergab sie nach zahlreichen Dankesworten einem Dienstmädchen, das die Gaben zu einem Turm aufbaute.

Elias Spiegelgold stand neben ihr und begrüßte wesentlich zurückhaltender. Sein spärliches hellbraunes Haar war glatt zurückgekämmt und sein Gesicht mit den spitzen Augenbrauen und dem breiten Kinn war zu einem steifen Lächeln verzerrt. Mit Händeschütteln begrüßte er seine Gäste, einige der bedeutendsten Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft.

Obwohl Elias Spiegelgold als Sohn der Spiegelgold’schen Buchhandelsdynastie bereits in höhere Kreise geboren worden war, hatte er sich seinen Status und sein Vermögen hauptsächlich selbst erarbeitet. Alois Spiegelgold, der Erstgeborene, hatte das Familienunternehmen geerbt, und wie es für jüngere Söhne aus gutem Hause nicht unüblich war, schlug Elias die Laufbahn eines Juristen ein. Sein großer Erfolg war vor acht Jahren eingetreten, zeitgleich mit der Tragödie seines älteren Bruders.

Damals hatte eine hochgefährliche Terroristenvereinigung namens TBK - der Treue Bund der Kräfte - das Parlamentsgebäude samt allen anwesenden Regierungsmitgliedern in ihre Gewalt gebracht und versucht, die Macht an sich zu reißen. Als der größenwahnsinnige Plan scheiterte, hatten trotzdem nur drei TBK-Mitglieder gefasst werden können. Elias Spiegelgold, der mittels seiner vorzüglichen Kontakte gerade Staatsanwalt geworden war, forderte für die drei Terroristen die Todesstrafe. In jenen Tagen wurde die Frage, ob eine solche Art der Bestrafung einem modernen und humanen Zeitalter entspreche, gerade heftig debattiert, und Elias Spiegelgold wurde über Nacht zur glorreichen Verkörperung eines altehrwürdigen Rechtsempfindens. Seiner Forderung nach der Höchststrafe wurde stattgegeben. Die drei Terroristen waren bis heute die letzten Sträflinge in der Geschichte der Republik geblieben, die den Tod durch den Strang fanden. Elias Spiegelgold aber hatte sich damit zum meistgefürchteten Gesetzeshüter und engen Freund allerlei konservativer Politiker emporgeschwungen. Im gleichen Jahr hatte er Nevera, die Schwester seiner verstorbenen Schwägerin, geheiratet - sie lernten sich auf Magdalenas Beerdigung kennen.

»Apolonia ... Pst!«

Apolonia drehte sich um und entdeckte Trude, die im Korridor stand und in den Saal hinabspähte.

»Was tun Sie hier?«, flüsterte das Kindermädchen. »Nun gehen Sie schon, mein Fräulein, na los!«

Apolonia war ganz verdattert darüber, dass Trude ihr Befehle erteilte, doch ausnahmsweise folgte sie der Aufforderung. Nach kurzer Überwindung schritt sie die geschwungenen Treppenstufen hinab, sich ihres Aufzugs peinlich bewusst. Sie hatte sich bis dato nie öffentlich in einem bonbonfarbenen Kleid sehen lassen, und zwar aus gutem Grund. Die knallige Farbe machte aus ihr eine bleiche Bohnenstange, die hübsch aussehen wollte und kläglich gescheitert war. Schon rief jemand ihren Namen. Aus der Menge schälte sich ein bekanntes Gesicht.

»Nein, was für ein Zufall.« Das Mädchen verzog die Lippen zu einem lahmen Lächeln. Sie war so alt wie Apolonia und trug das goldene Kreuz um den Hals, das jede Schülerin der katholischen Nonnenschule erhielt und das Apolonia schon mit sieben Jahren geschmacklos gefunden hatte.

»Einen Zufall kann man es nicht unbedingt nennen, dass ich zu Hause bin«, erwiderte sie.

»Zu Hause, ach ja! Ich hatte fast vergessen, dass du jetzt hier wohnst.«

Apolonia ballte die Fäuste beim genüsslichen Klang dieser Worte. »Guten Abend, Muriella.«

»Apolonia.« Sie küssten sich zweimal auf die Wange und musterten sich danach wieder mit kühlen Blicken.

»Oh - was trägst du nur für ein schönes Kleid«, bemerkte Muriella und nutzte die Gelegenheit, sie von oben bis unten zu mustern. »Du hast dich tatsächlich von deinen geliebten ... wie soll ich sie nennen - Erdfarben? - getrennt. Man erkennt dich kaum wieder.«

Apolonia lächelte süß. »Nun, dein Erscheinen ist unabänderlich, egal was du trägst.«

Muriellas Lippen wurden spitz. »Ich habe gehört, dass du nun eine öffentliche Schule besuchst.« Ihre kleinen schwarzen Augen blitzten - sie wusste genau, dass Apolonia von der Schule geworfen worden war.

»Offenbar bist du falsch informiert. Ich genieße inzwischen exzellenten Privatunterricht.«

Träge hob Muriella ihre Augenbrauen. »So? Dann kannst du ja gar nicht mehr anderen ins Wort fallen und sie verbessern, wie du es doch früher so gerne getan hast.«

»Gott sei Dank bleibt mir das nun erspart, in der Tat. Professor Doktor Klöppel ist ein ausgezeichneter Lehrer von internationalem Rang.« Sie räusperte sich. Es war höchste Zeit für einen Gegenangriff, und zwar an einem Ort, der Apolonia bessere Möglichkeiten bot, Muriella bloßzustellen. »Wollen wir nicht hinüber zum Büfett? Meine Tante hat Delikatessen anrichten lassen, die du bestimmt noch nie gekostet hast ...«